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Mit Sócrates gegen die Mächtigen
Seit Bolsonaro Präsident ist, politisieren sich Brasiliens Fußballfans - wie zu Zeiten der »Corinthians-Demokratie«
Schnellen Schrittes marschiert die Gruppe die Avenida Paulista in São Paulo herunter. Vor dem weltbekannten Kunstmuseum MASP bleiben die maskierten Männer mit den muskulösen Oberarmen plötzlich stehen. Ein Transparent wird ausgerollt. »Wir sind Demokratie«, steht dort. Die Ultras des Fußballvereins Corinthians sind an diesem Samstag ins Zentrum der Megametropole gekommen, um ein Zeichen gegen Präsident Jair Bolsonaro zu setzen.
Einige hundert Meter weiter: ein gelb-grünes Meer. Brasilien-Fahnen werden geschwenkt, Bolsonaro-Porträts in die Luft gereckt, Vuvuzelas tröten. Seit Wochen demonstrieren Anhänger*innen des rechtsradikalen Präsidenten auf der Avenida Paulista gegen die Isolationsmaßnahmen. Mehrere Demonstrant*innen fordern auch an diesem Samstag lautstark eine Schließung des Parlaments und des Obersten Gerichtshofes. »Es ist absurd, dass sich dort drüben Menschen versammeln, die eine Rückkehr zur Diktatur wollen«, sagt Danilo Pássaro, 27, tätowierte Arme, der als Sprecher der Ultragruppe auftritt. »Wir sind hier, um uns dem Autoritarismus entgegenzustellen.«
Dass Fans von Corinthians gegen Bolsonaro protestieren, überrascht nicht. Der Arbeiterverein aus dem Osten São Paulos kann auf eine widerständige Geschichte zurückblicken. Im Jahre 1982 befand sich Brasilien im Umschwung. Die blutige Militärdiktatur verlor immer mehr an Boden und ein politischer Aufbruch zeichnete sich ab, der auch den Fußball erfasste. Nachdem Corinthians-Präsident Vicente Matheus - ein bekennender Unterstützer der Militärdiktatur - abgesetzt worden war, begann mit der Ernennung des linken Soziologen Adílson Alves zum Sportdirektor ein einmaliges Experiment im brasilianischen Fußball: die »democracia corinthiana«, die Corinthians-Demokratie. »Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Vereinsführung beteiligt.« So beschrieb Weltstar und Fußballrebell Sócrates das Experiment. Jeder hatte eine Stimme, vom einfachsten Angestellten bis zum Superstar. »Alles war demokratisch.«
Der Verein wurde zu einem wichtigen Sprachrohr der Opposition. Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische Botschaften gegen die Diktatur. »Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie«, lautete ihr Leitspruch. Der selbstverwaltete Verein gewann im Jahr 1982 überraschend die Meisterschaft. Vor allem drei Spieler drückten dem Projekt ihren Stempel auf: Neben dem jungen Stürmer Walter Casagrande und dem Linksverteidiger Wladimir war es Sócrates, der dieses einmalige Kapitel der brasilianischen Fußballgeschichte prägte. Der Kinderarzt verkörperte die Antithese zum klassischen Fußballspieler. Der bekennende Linke rauchte Kette, las Marx und unterstützte die »Direitas já«-Bewegung für demokratische Wahlen. Nach dem Ende seiner Karriere machte der »Doktor« als bissiger politischer Kommentator und Autor der linken Wochenzeitung »Carta Capital« weiter von sich reden - bis er 2011 an den Folgen seiner Alkoholkrankheit verstarb.
Auch Verteidiger Wladimir engagierte sich nach Karriereende weiterhin politisch und nahm vor der Wahl 2018 an Kundgebungen gegen Bolsonaro teil. »Wir haben für das freie Wahlrecht und Mitbestimmung gekämpft«, sagte der Ex-Kicker damals gegenüber »nd«: »Leider ist es jetzt wieder Zeit, uns zu positionieren. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass unsere Demokratie zerstört wird.«
Heute ist der Weltpokalsieger Corinthians einer der reichsten Vereine Lateinamerikas. Von den Visionen der 1980er Jahre und dem selbstproklamierten Anspruch, der »Verein des Volkes« zu sein, ist nur wenig übrig geblieben - außer vielleicht in der Kurve. Dort gibt die mächtige Ultragruppe »Gaviões da Fiel« (Treue Falken) den Ton an. Zur Zeit der Militärdiktatur forderte die Gruppe eine Amnestie für die politischen Gefangenen und unterstützte die democracia corinthiana. Heute zählen die Falken mehr als 100 000 Mitglieder in ganz Brasilien. Sie führen gleichzeitig eine der wichtigsten Sambaschulen des Landes und sind im armen Stadtrand von São Paulo verwurzelt.
In den vergangenen Jahren scherten sich die Fanszenen Brasiliens wenig um Politik und sorgten eher durch gewaltsame Ausschreitungen für Aufmerksamkeit. Seit der Wahl von Bolsonaro haben sich jedoch viele Fans wieder politisiert - vorneweg die Anhänger von Corinthians. Vor der Wahl 2018 kritisierte der Präsident der »Gaviões da Fiel« den damaligen Kandidaten Bolsonaro. Auf zahlreichen antifaschistischen Demonstrationen marschierten die Ultras mit. Und im Stadion wurden Banner gegen den autoritären Präsidenten präsentiert.
Bolsonaro gibt gerne Interviews in Fußballtrikots und sucht immer wieder medienwirksam die Nähe zu Profis. Mit Erfolg: Etliche Spieler unterstützten ihn im Wahlkampf, darunter Superstar Neymar oder Dribbelkönig Ronaldinho. Auch während der Corona-Krise versucht Bolsonaro, den Fußball für sich zu nutzen. So forderte er, der Corona lediglich für eine »kleine Grippe« hält, nicht nur eine Wiedereröffnung des Handels, sondern auch eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs. Denn für die jungen Sportler, so Bolsonaro, bestehe schließlich durch das Virus keine Gefahr. Durch den Ausfall aber drohten vielen Spielern scherwiegende finanzielle Einbußen. Damit hat Bolsonaro nicht ganz unrecht. Nicht alle Profifußballer sind Topverdiener, was aber auch an dem komplizierten Ligabetrieb mit einer lokalen und einer nationalen Spielklasse begründet ist.
In einem Video der Spielervereinigung Fenapaf meldeten sich 16 namhafte Profis zu Wort und forderten eine Rückkehr zum Spielbetrieb - allerdings nur, wenn ihre Sicherheit garantiert werde. Dagegen spricht: Mehrere Spieler haben sich bereits mit dem Coronavirus infiziert. Allein bei Flamengo, derzeitiger Titelträger der südamerikanischen Champions League, sind es drei Fußballer.
Die meisten Trainer und Funktionäre sind gegen die Wiederaufnahme. Raí, Sportdirektor beim Erstligisten São Paulo FC und Bruder von Sócrates, nannte Bolsonaros Vorschläge »unvernünftig« und forderte ein Amtsenthebungsverfahren wegen seines Kurses in der Coronakrise. Auch Corinthians-Legende und TV-Kommentator Casagrande kritisierte Bolsonaro scharf. So politisch ging es im brasilianischen Fußball schon lange nicht mehr zu.
Seit dem Amtsantritt Bolsonaros tut sich einiges in der Kurve. Zahlreiche antifaschistische Fanklubs gründeten sich. Corinthians-Fans Pássaro sagt, er könne sich sogar vorstellen, gemeinsam mit rivalisierenden Ultras gegen Bolsonaro auf die Straße zu gehen. »Jetzt geht es erst einmal darum, die Demokratie verteidigen.«
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