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  • Philosophie des Abenteuers

Nutzpflanzen in Nährlösung

Von der Flucht aus der Misere irdischer Existenz zur Eroberung der »wirklichen Tiefen«: Anmerkungen zur Philosophie des Abenteuers

  • Frank Beuth
  • Lesedauer: 9 Min.

In einem Liedtext der Berliner Band »Dota« ist die Raumfahrt weder eine Angelegenheit des forschenden Interesses noch ein euphorischer Aufbruch in ein kosmisches Abenteuer, angesichts dessen man, nicht frei von Stolz, sagen möchte: Erstaunlich, was die Menschheit zuwege bringt.

Nein, die Rakete, deren Countdown hier heruntergezählt wird, ist gleichsam ein »Fluchtwagen« aus der Misere einer irdischen Existenz, die, wie in jeder anständigen Dystopie, als solche kaum mehr möglich zu sein scheint. Wir haben es vergeigt, so das popkünstlerische Statement der jungen Leute. Gerade noch »genügend Kerosin für den Raketenstart« an Bord und rasch »zusammengerafft«, was der Planet hergibt, um »die nächsten tausend Jahre Nutzpflanzen in Nährlösung zu ziehen«.

Aber es kommt noch schlimmer. Denn erwartungsgemäß bietet diese Rakete nicht für alle Platz. Nur ein paar »Reiche« und die »Rücksichtslosesten« haben es überhaupt bis hierher geschafft. Der Text ist eindeutig: Nicht die Menschheit wird hier gerettet, sondern privilegierte Menschen. Privilegiert zu sein bedeutet, auf der richtigen Seite des »Panzerglases« zu sitzen, und wird vor allem anderen zu einer Frage der Perspektive. Die Blickrichtung muss stimmen. Von innen nach außen. Keinesfalls umgekehrt. Die Außenhülle der Rakete wird Grenzzaun, eine trennende Mauer. Wohl dem, der es gerade noch hineingeschafft hat.

Der privilegierte Blick ist seit jeher ein Thema der Raumfahrt. Astronauten wie Kosmonauten berichteten in der Vergangenheit einhellig, dass sie vom Anblick der Erde aus dem Weltall überwältigt waren. Das Phänomen hat es als Overview-Effekt zu einiger Bekanntheit gebracht. Der Raumfahrer wird sich der Schönheit des Planeten bewusst, aber zugleich der Fragilität der schützenden Hülle.

Das Privileg verdankt sich weder Reichtum noch besonderer Rücksichtslosigkeit, prädestiniert aber die Akteure als Botschafter. Denn sie haben exklusiv erlebt, dass zwar sie die Raumfahrer sind, es aber keinesfalls abwegig erscheint, die Erde aus der Ferne selbst als Raumschiff wahrzunehmen. Mit der folgenreichen Einschränkung, dass keiner aussteigen kann, wie es die von dem genialen Erfinder Richard Buckminster Fuller populär gemachte Bezeichnung vom »Raumschiff Erde« nahelegen soll.

Dieses Raumschiff Erde gilt seit den 1960er Jahren als zeitgemäße Übersetzung eines bekannten Satzes vom nautischen in astronautisches Vokabular: »Wir sitzen alle im selben Boot.« Es führte zu Konzepten wie der »Gaia-Hypothese«, die die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen und zugleich als ein sich selbst organisierendes System ansieht, was geowissenschaftlich nicht standhält, aber allemal eine Haltung ist. Damit rückte die Idee von Nachhaltigkeit ins Rampenlicht, die ein Nachdenken über Kapitalismus ohne Wachstum überhaupt initiierte. Denn das Bild vom Raumschiff ist zugleich eines von der Endlichkeit unserer Ressourcen. Und es macht die Grenze wahrnehmbar zwischen einer Leben ermöglichenden und einer lebensfeindlichen Umgebung. »Nirgendwo wird die Angewiesenheit von Leben überhaupt auf eine geeignete Umwelt so drastisch zu Bewusstsein gebracht wie dort, wo es keine solche Umwelt gibt – im All«, schreibt Peter Sloterdijk in seinem Essay »Starke Beobachtung. Für eine Philosophie der Raumstation«. Wer sich dorthin aufmacht, muss in der Lage sein, seine »Umwelt« als Life Support System gleichsam mitzubringen.

Neben dem Bonmot, dass mit der bemannten Raumstation endlich der Beweis erbracht sei, dass es intelligentes Leben außerhalb der Erde gibt, gelingen dem Philosophen hier seinerseits zwei starke Beobachtungen. Zum einen verliert eine Grundannahme der Technikphilosophie an Plausibilität, dass Technik in erster Linie der Organerweiterung oder dem Organersatz diene. Sie bekommt zumindest Konkurrenz, denn »künstliche Inseln« im All zu schaffen, in denen Menschen sich für einen längeren Zeitraum aufhalten können, scheint eine andere Nummer zu sein als die Erweiterung unserer sensorischen und Bewegungsspielräume.

Zum anderen erinnert er uns an den Zusammenhang zwischen Umwelterfahrungen und der Selbsterkenntnis des Menschen, was Heidegger in der Bestimmung unseres Daseins als das »alltägliche In-der-Welt-Sein« zum Ausdruck gebracht hat. Durch die Realität der Raumstation ist die Sache mit der Welt plötzlich nicht mehr so eindeutig. Heideggers Gedanke müsste um die Möglichkeit des Daseins in vielen Um-Welten – auch außerhalb der Erde – erweitert werden.

Was uns im 20. Jahrhundert mit der Wucht einer fundamentalen Ersterfahrung begegnete, scheint im 21. Jahrhundert Normalität zu werden. Dabei geraten nicht die routinierten Versorgungsflüge für die internationale Raumstation ISS oder der Transport von Satelliten und Sonden in den Blick, sondern vielmehr eine Reihe von Transport- und Logistik-Unternehmen, die allmählich die Konturen einer neuen Branche erkennen lassen – des »Weltraumtourismus«. Hier klettert der Tourist an Bord des Raumschiffs, um, wie uns Wikipedia verrät, aus »privaten Motiven« seinen üblichen Lebensmittelpunkt zum Zwecke des Aufenthalts an einer anderen Destination zu verlassen. Das rückt zwar die Ticketpreise in den Fokus des Interesses, aber ebenso sehr die Frage nach der prinzipiellen Beschaffenheit solcher Tourismus-Destinationen. Denn zweifelsfrei beginnt alles Sein auf einem anderen Planeten, auch das temporäre, aus Mangel an Atmosphäre mit dem Einzwängen des Körpers in einen beengten Druckbehälter. Man muss sich nur an die eindringlichen Atemgeräusche erinnern, mit denen die Toningenieure jeden Außeneinsatz der Protagonisten in Stanley Kubricks Meisterwerk »2001 – Odyssee im Weltraum« unterlegt haben.

Große Ideen müssen solcher Enge früher oder später entrinnen. Elon Musks Marskolonie, die sich angesichts der Transportkapazitäten der Falcon-Heavy-Raketen von SpaceX leicht als Kleinstadt mit regem Besuchsverkehr vorstellen lässt, soll eines Tages auf diesen technischen Schutz verzichten können. Der bekannte Vordenker hatte hier seinerseits einen Vordenker, denn das gedankliche Rüstzeug hat der russisch-amerikanische Astrovisionär Carl Sagan 1973 hinterlassen, als er die Technik des Planetary Engineering ins Spiel brachte, die heute üblicherweise als Terra Forming bezeichnet wird. Mit Blick auf den Mars ging es in Sagans Überlegungen darum, mit technischen Mitteln einen künstlichen Treibhauseffekt in Gang zu bringen, der dem Planeten seine verloren gegangene Atmosphäre zurückgeben könnte. Ob das Abschmelzen der vereisten Polkappen durch Atombombenabwürfe oder die Erwärmung und das Freisetzen von Kohlendioxid mittels »eingefangener« Kometen, die mit hoher Geschwindigkeit auf der Marsoberfläche einschlagen, bewerkstelligt werden sollte, müssen Experten abwägen.

Es deutet sich jedenfalls an, dass auch Life Support Systems künftig in anderem Licht zu betrachten sind. Deren Einsatz wäre, Sagan und Musk zufolge, nämlich nur eine temporäre Angelegenheit. Die Natur selbst solle, einmal in die erwünschte Richtung angestoßen, diese Funktion übernehmen können. Das hätte den Nebeneffekt, dass wir zwar mit Gott auf Augenhöhe wären, aber einsehen müssten, dass wir für die Neuschöpfung deutlich länger brauchen als ER für das Original. Die Dauer, die ein solcher Vorgang auf dem Mars in Anspruch nehmen würde, wurde überschlägig berechnet: 170.000 Jahre bis zu einem Leben ohne Atemgerät, 500 bis 1.000 Jahre seien zu veranschlagen, bis komplexere Pflanzen wachsen könnten und schließlich sogar der Druckanzug unnötig sei.

Die »künstlichen Inseln« im All – die Raumstationen – würden durch »Neue Welten« komplettiert und die – wiederum auf Heidegger zurückgehende – Beschreibung des Menschen als Entwerfer von Welten, womit nichts anderes als Kulturen gemeint sind, bekäme eine bislang nicht erkannte Dimension. Mindestens könnte sich die Frage daran knüpfen, ob die ganze Erde irgendwann als »Alte Welt« gilt und wenn ja, wie eine Balance zwischen Alt und Neu zu fassen wäre.

Es könnte ein historisches Vorbild geben. Denn die Raumfahrt hat von Beginn an mit dem Verhältnis zwischen der Alten und der Neuen Welt zu tun, namentlich dem zwischen Europa und Amerika. Während die Europäer lange übersehen haben, dass Amerika mehr sein würde als nur der »Widerhall der Alten Welt«, wie es noch Hegel annahm, hat der deutsche Philosoph Gotthard Günther den Amerikanern die Alleinstellung bescheinigt, eine Kultur hervorbringen zu können, die mit Recht als »universale planetarische (oder solare?) Kultur« zu bezeichnen wäre.

Das hat Gründe: »Was Amerika bereit ist, von Europa anzunehmen, sind lediglich und ausschließlich die rein nützlichen Aspekte westlicher Zivilisation, seine Technik sowie die praktischen Auswirkungen angewandter Wissenschaften.« Goethe etwa, eine »Symbolgestalt« der europäischen Kultur, würde sich gegen den Hintergrund des amerikanischen Lebens »fast lächerlich« ausnehmen. Und auch der Blick auf amerikanische Schriftsteller wie T. S. Eliot, Walt Whitman oder Ernest Hemingway führe hier nicht weiter, denn sie spiegelten nur die europäische Überlieferung wider. Sie waren ihm dem Pass nach Amerikaner, im Geist aber Europäer.

Sicher sind hier Stereotype auszusortieren, wie das vom Amerikaner als Gott der Materie, der mit dem Geist (siehe Goethe) nichts anzufangen weiß und stattdessen seinen Echtzeit-Pragmatismus kultiviert. Aber Günther hat die Amerikaner nie als geistlos beschrieben, sondern ihnen entschiedener als jedem europäischen Volk die finale »Säkularisierung des Himmels« zugetraut. Sie könnten diejenigen sein, für die »der Himmel eine empirische Landschaft« wird, die man kennt, so wie man sein »Nachbardorf« kennt.

Indizien, die seine Annahme stützten, fand er im literarischen Genre der Science-Fiction, auch wenn seine steile Karriere mit dem »Kolportage-Roman«, auf dem Niveau von Groschenheften, begann. In der »Romanliteratur der Prophezeiung«, die sich in den USA auffallender Beliebtheit erfreute, würden genau die Themen verhandelt, deren Verständnis nichts Geringeres als eine »völlig neue Wissenschaft« erfordere. Eine, für die auch eine feststehende Größe wie die Lichtgeschwindigkeit keine gedankliche Grenze darstellt. Zeitreisen, Leben auf Basis von Silizium, Identitätsübernahme, die Überwindung von Raum und Zeit …
Erst die »Philosophie des Abenteuers« handle von der Eroberung der »wirklichen Tiefen« des Alls, gegen die sich eine »Spritztour zum Mond« oder eine »Expedition auf einen Planeten« noch wie Kinderspiele ausnähmen. Wahre Raumfahrt ist keine Sache der Technik – »erstaunlicher Apparate« – allein, sondern die Frage einer Kultur, die sich im Bewusstsein ihrer »welthistorischen Mission« zuallererst von allen fremden Einflüssen und Gewissheiten befreien müsse.

Gotthard Günther hatte sich mehr als einmal von Gewissheiten befreit. In seinem Lebenswerk, das er dem Begründungsversuch einer mehrwertigen Logik widmete, die über unsere zweiwertige Logik »wahr – falsch«, »ich – du«, »Subjekt – Objekt«, wie auch immer, hinausgelangen könnte. In seinem Lebenslauf, als er sich weigerte, für eine glänzende akademische Karriere dem Führer und Kanzler des deutschen Reiches Gehorsam zu versprechen und es vorzog, mit seiner jüdischen Ehefrau Deutschland zu verlassen. Zuletzt in Amerika, wo er auf die verrückte Idee kam, sein philosophisches Werk mangels anderer Gelegenheiten im Genre der Science-Fiction zu publizieren.

Wer seine Einführungen in Science-Fiction-Romane wie »Ich, der Robot« oder »Einbruch der Nacht« (Isaac Asimov) und »Die Entdeckung Amerikas und die Sache mit der Weltraumliteratur« liest, wird unschwer schon die Konturen der Kultur und Denkhaltung des Silicon Valley ausmachen können. Dabei wird auch deutlich, dass sich Kultur, im Gegensatz zu Coca-Cola, nicht für Im- und Export eignet. Dass Europa gegenüber Amerika so alt aussieht, erklärt er uns auch mit der Begrenztheit der zweiwertigen Logik. Denn es sei die Charakteristik aller regionalen Hochkulturen, dass sie nur zwei gegensätzliche Pole kennen würden und sich deshalb nichts anderes vorstellen können, als die Menschen einzuteilen in Mitglieder der eigenen Kultur und Barbaren außerhalb von ihr. Der philosophische Außenseiter, der spätestens mit seinem Buch »Das Bewusstsein der Maschinen« zum eigentlichen Philosophen der Kybernetik wurde, lässt zumindest die Frage offen, wozu ein Europa fähig wäre, das diesen Gegensatz überwindet.

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