• OXI
  • Sehnsuchtsziel der Raumfahrt

Schickt (noch) keine Menschen zum Mars!

Erforschung unbekannter Welten oder moralische Ansprüche? Der Aufbruch zum roten Planeten hat keine Dringlichkeit, die in dieser Frage Kompromisse erzwingen könnte

  • Hans-Arthur Marsiske
  • Lesedauer: 10 Min.
Unser roter Nachbarplanet lockt Technikenthusiasten seit Langem. Bereits vor über hundert Jahren, am 23. September 1909, notierte Gerhart Hauptmann in seinem Tagebuch: »Im Zug Berlin-Hamburg. Traf Wegner, den Schauspieler. Sehr viel Energie und großes Talent. Er war erfüllt von dem großen Fortschrittsrausch der Zeit. Zeppelin, Wright, nächstens die Eroberung des Mars, der in diesem Jahre seine größte Erdnähe hat.« Und als sich Anfang 1931 in Moskau die »Gruppe zum Studium der Rückstoßbewegung« (GIRD) bildete, um die Ideen des Mathematiklehrers und Raketenpioniers Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski in die Tat umzusetzen, begrüßten sich deren Mitglieder mit den Worten: »Auf zum Mars!«

Mittlerweile befindet sich das Sehnsuchtsziel der Raumfahrt definitiv in Reichweite. Viele unbemannte Sonden sind bereits in einen Marsorbit eingeschwenkt, einige sogar auf ihm gelandet. Vier mobile Roboter haben bisher die Oberfläche untersucht, weitere sollen folgen. So will die US-amerikanische Weltraumbehörde Nasa in diesem Jahr mit der Mission »Mars 2020« einen Rover auf den Weg bringen, der nach Spuren früheren Lebens suchen soll. Der Start der europäischen Mission »ExoMars«, die unter der Marsoberfläche schauen soll, ob dort heute noch Leben existiert, ist dagegen noch einmal um 26 Monate auf den Herbst 2022 verschoben worden.

Die Frage nach dem Leben ist vielleicht die stärkste Triebkraft, die uns Menschen dazu bringt, die Sterne zu beobachten und immer weiter ins All vorzudringen. Wie ist es entstanden und wie verbreitet ist es im Universum? Sind wir einzigartig oder nur eine unter Milliarden anderen Lebensformen in unserer Milchstraße? Auf dem Mars könnten wir erste Antworten finden. Die Beobachtungen der letzten Jahre haben viele Wissenschaftler zu der Einschätzung gebracht, dass die Bedingungen auf dem Planeten früher günstiger für die Entwicklung von Leben gewesen sein müssen. Wenige Meter unter der Oberfläche, wo die tödliche UV-Strahlung der Sonne keine Wirkung mehr hat, könnten sogar bis heute Mikroorganismen überlebt haben.

Zugleich geht es bei der Raumfahrt aber immer auch darum, Grenzen zu überwinden, sich weiterzuentwickeln, neue Welten zu entdecken. Ob es sich dabei um einen menschlichen Grundtrieb handelt, wie immer wieder behauptet wird, sei einmal dahingestellt. Aber zweifellos ist die Neigung verbreitet, einen Berg zu besteigen, einfach weil er da ist, vielleicht auch, weil man wissen möchte, wie die Welt von dort oben aussieht. Das hat zunächst keinen praktischen Nutzen – außer der Befriedigung, die Herausforderung gemeistert zu haben. Aus ähnlichen Gründen wollen viele zum Mond und Mars aufbrechen: Um zu sehen, ob wir es können. Und um diese fremden Welten mit allen Sinnen zu erleben, statt sie aus den von Robotersonden übermittelten Daten zu rekonstruieren.

Die unbemannten Missionen dienen daher erklärtermaßen immer auch der Vorbereitung bemannter Flüge zum roten Planeten. Manche drängen darauf, das Vorhaben so schnell wie möglich umzusetzen. Dabei ist klar, dass es nicht darum gehen wird, wie bei den Apollo-Missionen in erster Linie eine Flagge aufzustellen und sie zusammen mit den Fußabdrücken der Astronauten zu fotografieren. Beim Mars wird es von vornherein das Anliegen sein, eine permanente Verbindung herzustellen und den Planeten, wenn irgend möglich, dauerhaft zu besiedeln.

Wie aber verträgt sich das mit der Frage nach dem Leben? Angenommen, ExoMars wird tatsächlich fündig und entdeckt dicht unter der Oberfläche ein funktionierendes Ökosystem einzelliger Lebewesen. Wäre das ein Grund, so bald wie möglich Astronauten zum Mars zu schicken, um genauere Untersuchungen vorzunehmen? Oder sollten wir in so einem Fall nicht lieber umgekehrt vorerst ausdrücklich darauf verzichten? Man betritt ja auch nicht ohne Not fremde Grundstücke, sondern bittet die Bewohner nach Möglichkeit vorher um Erlaubnis.

In der öffentlichen Debatte über Raumfahrt, insbesondere im Zusammenhang mit dem Mars, werden solche Fragen bislang kaum gestellt. Wenn das Thema bei Fachtagungen gelegentlich mal angesprochen wird, stößt es oft auf Unverständnis, manchmal auch auf offene Ablehnung. Die Fragen werden offenbar als störend empfunden und gelegentlich abgetan mit dem Verweis, dass ja Schutzgebiete eingerichtet werden könnten. Es wird auch eingewandt, dass uns der Schutz der irdischen Astronauten näher liegen sollte als die Rücksichtnahme auf ein paar primitive Einzeller. Auf bemannte Missionen zum Mars verzichten, um dort lebende Bakterien zu schützen? Das erscheint vielen offenbar undenkbar.

Der Weltraumaktivist Rick Tumlinson etwa verwies in einer Diskussion nach einem seiner Vorträge einmal darauf, dass wir doch regelmäßig Millionen von Bakterien töten, wenn wir uns die Hände waschen. Er übersah dabei allerdings, dass es sich in dem Fall um Lebewesen handelt, mit denen wir uns gemeinsam entwickelt haben und seit Millionen Jahren in einer Wechselbeziehung stehen. Über Lebensformen auf anderen Planeten dagegen wissen wir nichts. Auf welcher Grundlage räumen wir Mikroorganismen vom Mars den gleichen Status ein wie irdischen Keimen? Wie soll sich zu ihnen eine friedliche, für beide Seiten fruchtbare Beziehung entwickeln, wenn wir von Anfang an über deren Leichen gehen?

Eine solche Vorgehensweise würde einer jahrhundertealten Tradition folgen, allerdings keiner guten: Die sich moralisch und militärisch überlegen fühlenden Europäer haben die Bewohner der Kontinente, die sie mit ihren Schiffen besuchten, auch als »primitiv« eingestuft und entsprechend grob behandelt. Verpflichten uns diese von Europa begangenen Verbrechen nicht, bei der zukünftigen Erkundung fremder Welten höchsten moralischen Anforderungen zu genügen? Der britische Mikrobiologe Charles Cockell (University of Edinburgh) hat 2007 in seinem Buch »Space on Earth« die Forderung formuliert, jegliche außerirdische Lebensform, auf die wir im All stoßen, bis zum Beweis des Gegenteils als intelligent zu betrachten. Das schließt offensichtlich Einzeller wie Bakterien ein. Warum sollten wir uns mit weniger zufriedengeben? Jede andere Grenzziehung zwischen geschütztem und zur Jagd freigegebenem Leben wäre willkürlich. Mangels empirischer Daten über Leben außerhalb der Erde ließe sie sich nicht begründen. Auf Nachfrage erklärte Cockell jetzt, es sei wohl »mehr oder weniger unvermeidlich, dass wir den Mars mit Menschen kontaminieren werden«. Er vermutet, dass wir mit dort möglicherweise lebenden Mikroben »wahrscheinlich angemessen umgehen können, sofern wir ein Mindestmaß an Gewissheit darüber haben, um was für eine Art von Leben es sich handeln mag«. Allerdings sei es »schwierig zu bestimmen, in welchem Maße wir menschliche Erkundungen zulassen können, bevor wir ein gründliches Verständnis davon haben, ob es dort Leben gibt und welcher Natur es ist«.

Das klingt ein bisschen wie die Suche nach einem Kompromiss zwischen dem Drang zur Erforschung unbekannter Welten und den eigenen moralischen Ansprüchen. Aber der Aufbruch von Menschen zum Mars hat keine Dringlichkeit, die in dieser Frage Kompromisse erzwingen könnte. Uns entgeht nichts, wenn wir damit noch so lange warten, bis wir mit Sicherheit wissen, ob er bewohnt ist oder nicht. Gewinnen könnten wir dagegen eine größere moralische Klarheit über unsere Ziele im Weltraum.

Es geht nicht darum, die bemannte Raumfahrt aufzugeben oder sie mit weniger Energie zu betreiben. Es geht darum, ihr eine neue Orientierung zu geben. Der Aufbruch ins All darf nicht bruchlos als Fortsetzung des Aufbruchs zu anderen Kontinenten betrieben werden, sondern muss viel entschiedener auch als Aufbruch zu einer neuen, ausgeglicheneren und friedlicheren Gesellschaft begriffen werden. Wann, wenn nicht jetzt, wäre eine bessere Gelegenheit, einen grundlegend anderen Weg einzuschlagen? Es ist unmöglich, die auf der Erde begangenen Verbrechen ungeschehen zu machen, und es ist ungeheuer schwierig, die in der Folge über Jahrhunderte entstandenen internationalen Machtverhältnisse und sozialen Gegensätze wieder aufzulösen. Im Weltraum aber ist es ganz einfach, die gleichen Fehler nicht noch einmal zu wiederholen. Es genügt eine simple Regel: Himmelskörper, auf denen Leben vermutet werden kann, sollten wir nicht oder nur mit größter Zurückhaltung betreten.

Wenn uns der Mars aus diesem Grund verschlossen bliebe, könnten wir auf seinen beiden Monden Forschungsstationen betreiben, von denen aus wir die Entwicklung des Lebens auf dem Mars verfolgen. Auf Asteroiden ließen sich Siedlungen errichten, vielleicht auch im Orbit des Zwergplaneten Ceres, der so zum Mittelpunkt der Weltraumkultur werden könnte. Gewiss, das wäre schwieriger als eine Besiedelung des Mars, der über eine dünne Atmosphäre verfügt und auch sonst eine Vielzahl von Ressourcen zur Verfügung stellt. Aber es wäre nicht das Ende der Raumfahrt. Schließlich sagte schon US-Präsident John F. Kennedy einst zur Begründung des Apollo-Programms: »Wir haben den Mond als Ziel gewählt, nicht weil es leicht zu erreichen ist, sondern gerade weil es schwierig ist.«

Doch es scheint sich etwas zu sträuben gegen eine solche Ausrichtung der Forschung und Entwicklung. Viele sehen darin wohl eine zu große Einschränkung, womöglich gar einen Angriff auf ihre persönliche Lebensweise. Die immer wieder zu beobachtende emotionale Heftigkeit der Empörung dagegen, die Rechte außerirdischer Mikroorganismen zu respektieren, lässt allerdings vermuten, dass mehr dahinter steckt.

Es hat wohl mit dem kollektiven Rauschzustand zu tun, in den die Europäer zunächst sich selbst und dann auch den Rest der Welt versetzt haben, dieser seit Jahrhunderten währenden Euphorie des vermeintlichen Sieges über die Natur: Seit es gelungen ist, die Kraft des Feuers in Bewegungsenergie umzuwandeln, zuerst mithilfe der Kanone, später mit der Dampfmaschine, fühlen wir uns unabhängig von Wasser, Wind und Sonne und sind scheinbar frei zu tun, was immer wir wollen. Dabei hat insbesondere der Rüstungswettlauf der Schusswaffen die Entwicklung wissenschaftlicher Optimierungsmethoden vorangetrieben und die Maximierung quantitativer Größen mehr und mehr zum gesellschaftlichen Leitmotiv gemacht. Wir haben uns auf diesem immer schneller rotierenden Karussell eingerichtet, die Lust an der Beschleunigung zum Lebensprinzip gemacht und auf vielfältige Weise moralisch abgesichert, durch Religion, Erinnerungskultur, Symbole und Rituale.

Aus so einem Rausch zu erwachen ist sehr unangenehm und gelingt nicht von heute auf morgen. Es muss wohl auch mit einem heftigen Kater gerechnet werden. Es führt jedoch kein Weg daran vorbei. Permanentes Wachstum ist kein brauchbares Leitmotiv mehr für die Gestaltung der Zukunft. Und die Erkenntnis, dass der europäische Wohlstand auf jahrhundertelangem, im großen Maßstab betriebenem Handel mit Sklaven, Waffen und Drogen beruht (den zentralen Waren des atlantischen Dreieckshandels), muss endlich Konseqenzen haben. Nur welche?

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Es ist auch schwer vorstellbar, wie der angerichtete Schaden durch Geldzahlungen oder andere Maßnahmen kompensiert werden könnte. Aber ein offizielles Eingeständnis, sich falsch verhalten zu haben, und die Selbstverpflichtung, solche Vorgehensweisen zukünftig nicht mehr zu dulden, wäre machbar. Eine Erklärung der europäischen Weltraumorganisation ESA, keine bemannten Missionen zum Mars vorzubereiten, solange unklar ist, ob es dort Leben gibt – das wäre ein starkes Signal, dass Europa entschlossen ist, aus seiner Vergangenheit zu lernen und künftig andere Wege zu gehen.

Ob so ein Signal in den nächsten Jahren zu erwarten ist? Angesichts der derzeitigen politischen Führung in Europa sind die Chancen wohl eher gering. Aber die geschichtliche Entwicklung verläuft manchmal sprunghaft, insbesondere dann, wenn viele Menschen gleichzeitig ähnliche, das eigene Weltbild erschütternde Erfahrungen machen. Und das scheint gerade zu geschehen: Der Klimawandel sorgt für zunehmende Unruhe, die nicht mehr nachlassen wird. Und die gegenwärtige Pandemie des Corona-Virus mag zusätzlich das Nachdenken über bessere Welten befördern – auf der Erde wie auch anderswo im Kosmos.

Hans-Arthur Marsiske, Jahrgang 1955, ist Sachbuchautor, Soziologe und Journalist. Zuletzt erschien unter anderem von ihm der Roman »Die letzte Crew des Wandersterns« im Hinstorff-Verlag Rostock (2019).

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