Kochen für Obdachlose

Selbstständige in Spanien: Wie ein Barbesitzer Entlassungen vermeiden will und warum ein Übersetzer von der Linksregierung enttäuscht ist

  • Ralf Streck
  • Lesedauer: 8 Min.

Es ist ein grauer und kühler Montag im baskischen Seebad Donostia (San Sebastián). So düster wie das Wetter an der Atlantikküste ist derzeit auch die Stimmung. In der kulinarischen Hochburg Spaniens findet sich bisher kaum eine Spur, an der sich die »neue Normalität« mit Lockerungen der Corona-Maßnahmen zeigen würde. Ein Gang durch die Straßen zeigt geschlossene Geschäfte, Cafés, Bars und Restaurants. Dabei könnten viele unter Auflagen seit diesem Tag wieder öffnen. Denn in Spanien dürfen nun anders als beim Nachbarn Frankreich Kneipen und Geschäfte wieder öffnen - noch vor Schulen und Bibliotheken.

Das Baskenland gehört zu den Gebieten, die wegen geringer Ansteckungsraten in die »Phase 1« vorgedrungen sind. Die gesamte Region Madrid, Coronavirus-Epizentrum in Spanien, befindet sich weiter in »Phase 0«, dazu auch große Teile Kataloniens, Andalusiens, Valencias oder Kastiliens. Die Normalisierung beginnt deshalb nur für gut die Hälfte der Bevölkerung.

Zum Leidwesen der Basken bleiben jene Orte oft geschlossen, die hier eigentlich das Leben prägen. Nach Hause in die eigene Wohnung lädt man selten ein. Stattdessen geht man in die Bar, trinkt ein »Pote« (Bier), greift sich ein »Pintxo« (Häppchen) vom gut gefüllten Tresen, um bald mit Freunden in die nächste zu ziehen. Die Pintxo-Kultur könnte zum Corona-Opfer werden, befürchtet Agustín Rodríguez. Mit dem Regenschirm bewaffnet, steht er freundlich lächelnd, aber verloren in einer sonst belebten Fußgängerzone vor der »Taberna Pandora«. Die beliebte Bar findet sich im Stadtteil Gros, der Surfer aus aller Welt anzieht, da der Zurriola-Strand hohe Wellen bietet.

»Es ist komisch, den Rollladen hochzuziehen«, bemerkt Agus, wie der bekannte Kneipier hier genannt wird, als er die »Büchse« öffnet. Angesichts explodierender Todes- und Ansteckungszahlen musste auch er am 14. März den Laden schließen, als das gesellschaftliche Leben im »Alarmzustand« eingefroren wurde. Nach offiziell 27 000 Toten, die reale Zahl liegt nach Ansicht von Experten eher bei 40 000, soll das Land wieder aufgetaut, die abgestürzte Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden.

»Das hier ist Luxus«, sagt Agus und stellt genießerisch Bier auf den Tisch. »Vor dem 25. Mai öffnen wir nicht.« Für ihn ist klar, dass die spanische Regierung die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. Dabei erfüllt seine »Pandora« die Voraussetzung für eine Öffnung: eine Terrasse. In Phase 1 dürfen Gäste nur draußen bedient werden, die Bar bleibt gesperrt. »Da wir wegen der Abstandsregeln aber nur 50 Prozent der mit 24 Plätzen großen Terrasse nutzen könnten, macht das keinen Sinn.«

Flammen die Ansteckungen nicht wieder auf, wollen die »Pandora«-Beschäftigten vor dem Eintritt der Phase 2 erneut über die Öffnung entscheiden. »Bleibt es dabei, dass auch dann nur 30 Prozent der Innenkapazitäten genutzt werden dürfen, halten wir wohl den Laden weiter geschlossen.« Hygieneauflagen seien aufwendig und teuer, erklärt Agus. Pintxos auf dem Tresen unmöglich. Jeder Tisch müsse nach jedem Gast sterilisiert werden, Hände nach jedem Kontakt mit Bargeld.

Aber wie übersteht der Unternehmer diese Zeit ohne Einnahmen? »Wir sind privilegiert«, erklärt der Baske und Sohn eines Andalusiers. »Unser Erte-Antrag (zur Bewilligung von Kurzarbeit - die Red.) ist bewilligt, wir werden subventioniert.« Auch seine neun Beschäftigten befinden sich in Kurzarbeit, erhalten derzeit 70 Prozent ihres Lohns vom Staat. Bei Firmen mit bis zu 50 Beschäftigten entfällt der Unternehmeranteil an der Sozialversicherung, größere Firmen sind zu 75 Prozent davon befreit. Und die Erte-Regelung wurde gerade bis zum 30. Juni verlängert. Zu vier Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen (Quote: 14,5 Prozent) kommen nun mehr als drei Millionen Kurzarbeiter.

»Bei mir kommt hinzu, dass mein Vermieter auf die Miete verzichtet, da ich vor einem Jahr viel investiert habe.« Der sei an einer langfristigen Beziehung interessiert und wolle Agus nicht ruinieren, der vor einem Jahr, nach 15 Jahren in der Altstadt, über den Fluss nach Gros umziehen musste. Das Gebäude, in dem sich die Bar Rekalde befand, musste der Gentrifizierung weichen. Dort soll nun ein Hotel entstehen.

Als Selbstständiger bekommt er nach einem Antrag bei seiner »Mutua« (Unfallkasse) - in Spanien ist diese Pflicht - sogar eine Art Arbeitslosengeld. Er muss, solange die Kneipe dicht ist, auch keine Sozialversicherungsbeiträge entrichten. Aber vor allem will Agus nicht in die Lage kommen zu entscheiden, wer arbeiten darf und wer auf die Straße gesetzt wird, falls sich der Betrieb nicht rechnet. »Umso näher an der Normalität wir starten, desto besser.« Sonst könne aus einer »Erte schnell ein ERE werden«, also eine »Personalfreisetzung«. So werden Kündigungen euphemistisch in der Amtssprache genannt.

Langweilig wird es Agus nicht. Zunächst verkochte die Belegschaft für Bedürftige die Lebensmittel, die in den Kühlschränken zu verderben drohten. Im Lokal von SOS-Rassismus organisiert er derzeit Nahrungsmittelhilfe für Obdachlose, Flüchtlinge oder jene, die durch alle Maschen fallen. Es seien etwa 200 Personen, darunter auch Basken.

Luis López könnte bei solchen Beschreibungen vor Neid erblassen. Über Skype schildert er seine Lage im heißen Granada in Andalusien, das weiter starken Beschränkungen unterworfen ist. Der Dolmetscher, der sonst sein Geld mit Simultanübersetzungen verdient, fällt fast durch alle Maschen des löchrigen Sozialsystems. Dabei hatte er auf die Linksregierung gehofft, da der Sozialdemokrat Pedro Sánchez in Koalition mit »Unidas Podemos« (Gemeinsam können wir es/UP) regiert. An der Regierung beteiligt ist auch die Vereinte Linke (IU), die López stets gewählt hat. Mit Yolanda Díaz stellt die IU die Arbeitsministerin. Und sie kommt, wie der Minister für Verbraucherschutz und IU-Chef Alberto Garzón, aus der Kommunistischen Partei.

Seinen richtigen Namen will der Andalusier nicht nennen. Er fürchtet auch, deutsche Kunden zu verlieren, wenn sein Name in der Zeitung steht. Wie Agus hat auch er Hilfe bei seiner »Mutua« beantragt, um von der Sozialversicherung befreit zu werden. Die kostet schon als Mindestbeitrag mehr als 300 Euro monatlich. Doch Luis López erfüllte eine der Bedingungen des 88-seitigen Dekrets nicht: Sein Umsatz hätte um 75 Prozent im Vergleich zum vorherigen Halbjahr einbrechen müssen. »Unmöglich«, sagt er, »wenn im März noch zwei Wochen gearbeitet wurde.« Die Auflage sei so schräg wie die Tatsache, dass er seine Kinder sechs Wochen trotz hochsommerlicher Temperaturen nicht einmal für eine Stunde pro Tag aus der kleinen Wohnung an die frische Luft und in die Sonne lassen durfte.

Da aber eine Million der 3,2 Millionen Selbstständigen schon Staatshilfe erhalten, ist für López klar, dass viele tricksen. »Für jedes Gesetz ein Hintertürchen«, so laute in Spanien ein Sprichwort. »Einige schreiben keine Rechnungen, verschicken sie erst, wenn Hilfen auslaufen.« Andere hoffen, dass es angesichts der Antragsflut kaum Prüfungen durch überlastete Behörden gibt.

Da er die Auflagen nicht erfüllen konnte, ließ er sich wegen Coronavirus-Symptomen krankschreiben. »Sehen will dich ohnehin kein Arzt, das läuft alles übers Telefon, und getestet wurde ich in den vier Wochen nicht.« Er erhält nun ein tägliches Krankengeld von 26 Euro und arbeitet aus der Quarantäne weiter. »Ich bin dazu gezwungen, da wir sonst verhungern.«

Hunger ist für viele längst ein reales Problem. Bis zu sieben Stunden warten Menschen schon in »Hungerschlangen«, um eine Tüte mit Grundnahrungsmitteln zu ergattern. López sieht sich selbst schon in so einer Schlange stehen. Dass niemand in der Coronaviruskrise zurückgelassen werde, wie Regierungschef Sánchez versprochen hatte, nennt er einen schlechten Witz. Nicht einmal das »lebensnotwendige Minimaleinkommen«, eine Art Sozialhilfe, das es im Baskenland oder Katalonien gibt, wurde von der Zentralregierung in Madrid bisher beschlossen. »Worauf warten die, jetzt müssen Menschen gerettet werden.«

Stattdessen würden Unternehmen wie Airbus, Fujitsu oder Mercedes subventioniert. H&M hat zum Beispiel 2019 einen Gewinn von 1,3 Milliarden Euro gemacht, die Löhne für die 6000 Beschäftigten zahle nun die Staatskasse. »Anders als in Frankreich bekommen sogar die Geld, die einen Sitz in Steuerparadiesen haben«, empört sich López. Konnte seine Familie bisher noch die Miete zahlen, ist das nun vorbei, da auch seine Frau trotz des dekretierten Kündigungsverbots ihren Job verloren hat. Er fragt sich, wie in Madrid derart an den Realitäten vorbeiregiert werden könne. »Die haben doch in der Opposition stets kritisiert, dass fast alle Verträge nur noch befristet geschlossen werden.« Die laufen nun aus, Kündigungen sind gar nicht nötig. Deshalb ist die Zahl der Arbeitslosen in Andalusien im April um 199 000 Menschen gestiegen.

Ob er die »Mietbeihilfe« beantragen wird, weiß der Übersetzer noch nicht. Er überlegt eher, sich dem Mietstreik anzuschließen, den Mietergewerkschaften ausgerufen haben, weil die Regierung Mietern derzeit nur Verschuldung anbietet. Bis zu 5400 Euro kann eine Familie erhalten, um bis zu sechs Monate die Mieten zu sichern. Aber schon das »bürokratische Monster«, das dafür geschaffen wurde, schreckt López ab. Er ist bereit, auch einer Regierung die Zähne zu zeigen, die er gewählt hat. Interessant ist für ihn auch der Sozialversicherungsstreik, den katalanische Selbstständige diskutieren. Die Beiträge müssen sich an den Einkünften orientieren. »Was wir nicht einnehmen, können wir auch nicht zahlen«, schließt sich López deren Forderung an.

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