Die Hälfte böse, ein Viertel gut

Zum Tod des französischen Schauspielers Michel Piccoli

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Er war der Typ des bourgeoisen Verführers. Aber nicht unbedingt den draufgängerischen Charme eines unzweifelhaft sympathischen Don Juan strahlte er aus - er blieb oft der Robuste mit Abgründen, hinter dessen maskulinen Aktionen und Attraktionen auch ein vertracktes Netz machtpolitischer, finanzieller und familiärer Verstrickungen zu ahnen war. Perfekt, diese Balance aus (groß-) bürgerlicher Anständigkeit und darin eingelagerter Verruchtheit; im besten Falle das Schillern zwischen dem Halb-Bösen und dem Viertel-Guten. Michel Piccoli stand für die Grenzfreiheit zwischen Kunst und Unterhaltung - Popularität und artifizielles Raffinement als Ausdrucksformen eines unteilbaren Spielcharakters.

In über 200 Filmen wirkte er mit, der Mann aus einer italienischen Musikerfamilie, geboren 1925 in Paris. Ein Star, dessen kaltglühende Beherrschtheit erregen konnte, just dann, wenn sie sich an der Seite von Romy Schneider, Brigitte Bardot oder Cathérine Deneuve entfaltete - zur hohen Schule eines geradezu erotischen Spiels mit Stil und Kultur. In Jean-Luc Godards »Die Verachtung« (1963) gelang ihm der Durchbruch, auch Filme von Claude Sautet (»Die Dinge des Lebens«, »Das Mädchen und der Kommissar«) gingen um die Welt, er gab übrigens auch einen jungen französischen Arbeiter - in Kurt Maetzigs »Ernst-Thälmann«-Film der DEFA, an der Seite von Günter Simon und Hans-Peter Minetti.

Vor allem der große Luis Bunuel wusste, warum er gerade Piccoli so gern einsetzte, als Gutsbesitzer auf amourösen Abwegen, als schleimigen Priester, als Industriellen und Minister oder als nobel-fiesen Hausfreund. Gerade in dem verfallsträchtigen Vexierbild-System des genialen Bunuelschen Surrealismus (u.a. »Der diskrete Charme der Bourgeoisie«) garantierte Piccoli stets so etwas wie hinterhältige Mannesfaszination.

Begonnen hat Piccoli, der mit den Sozialisten sympathisierte, als Theaterschauspieler, und in der Titelrolle von Ibsens »John Gabriel Borkman« zeichneten ihn die deutschen Kritiker 1993 als Schauspieler des Jahres aus. Die Inszenierung von Luc Bondy feierte Triumphe in Paris und Brüssel, Wien und München.

Borkman: ein Mensch, der hoch hinaus wollte, sich im Ehrgeiz schuldig machte, eingesperrt wurde und der dann wie ein Nosferatu im Schattenreich des eigenen Hauses sein verstörtes, noch immer traumstörrisches Dasein lebt. Piccoli: oben Löwenmähne, unten schlaffe Hände; ein Einsamer, gleich einem Fürsten der Untoten, fortwährend ein rätselhaft Zielstrebiger, der ohne Ziel durchs Haus und später durch eine fantastisch verschneite Bühnenwinterlandschaft stapft. Der Schauspieler damals im »nd«-Interview in Paris: »Borkman ist einer, der das Unglück sucht und dabei doch glücklich bleibt. Es ist eine gespenstisch heitere Lebenskunst.« Ebenfalls in Paris spielte Piccoli die Titelrolle in Thomas Bernhards »Minetti« - Porträt eines Künstlers an den Pforten zur immerwährenden Verrücktheit. Den Wahnsinn spielte er wie eine milde Gabe des Schicksals.

Er war der Kräftige, und zu dieser Kraft gehörte die Selbstverständlichkeit, sich mit dem eigenen Wesen die Welt herzunehmen und sich zugleich darin zu verlieren.

In einem seiner Filme (»Komödie im Mai«, 1990, Regie: Louis Malle) angelt er Flusskrebse, ein wunderbar leichtsinniger, leichtherziger Widerstand wird da in Zeiten von 1968 auf dem Land zelebriert gegen Vernunft und Ordnung, und statt zu toben, setzt sich Piccolis Held mit souveräner Beiläufigkeit nieder im gefährlichen Spiel von Ehrgeiz und Liebe. Eben erwischte er seine Frau mit einem anderen Mann, und es liegt in dieser ungeheuren, unangebrachten, unlogischen Ruhe des Verarbeitens ein so irrwitzig kindisches Hoffen auf eine unkonventionelle Wendung noch der bittersten Situation.

Nun ist Michel Piccoli im Alter von 94 Jahren gestorben, am Dienstag vor einer Woche, an den Folgen eines Schlaganfalls, wie erst jetzt bekannt wurde.

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