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Mit Aluhut und »Judenstern«
DER FEIND STEHT RECHTS: Für Stephan Anpalagan sind die Teilnehmer der sogenannten Hygienedemos Gegner einer freiheitlichen Gesellschaft
Auf den ersten Blick glaubt man noch an eine optische Täuschung: Ein gelber Stern mit schwarzer geschwungener Inschrift, in Brusthöhe auf der Oberbekleidung. Erst bei näherem Hinschauen liest man: »ungeimpft«. Ein zweites Bild zeigt Anne Frank, darüber die Worte »Anne Frank wäre bei uns«. Dieses Motiv scheint beliebt zu sein. Man findet es auf Plakaten und auf T-Shirts. Der Neonazi Sven Liebich aus Halle trägt ein solches.
Wenige Meter entfernt läuft ein Mann durch die Menge, der sich vollständig in eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge gehüllt hat. Mittlerweile stellen rechte Gruppierungen ihre Sympathien für das Nazi-Regime noch offener zur Schau. Sie marschieren durch Innenstädte und tragen dabei T-Shirts mit Neonazi-Codes.
All dies lässt sich auf »Hygiene-Demonstrationen« bzw. »Corona-Demonstrationen« in aller Ausführlichkeit beobachten. Dort heißt es unter anderem: »Wer nicht auf die Straße geht, wacht morgen im Nationalsozialismus wieder auf«. Oder auch: »Ausgangsbeschränkungen sind sozialer Holocaust«.
Es ist noch nicht einmal zwei Wochen her, da sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angesichts des 75. Jahrestags zum Ende des zweiten Weltkriegs: »Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz bis heute. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.«
Heute, zwei Wochen später, marschieren Menschen, die den Holocaust leugnen, neben Menschen, die sich als Opfer eines gerade stattfindenden Holocausts empfinden. Dazwischen sind Menschen, die sich einen neuen Holocaust herbeisehnen, weil »dunkle Mächte« (also Juden) und eine »globale Finanzelite« (also Juden) in Gestalt von Bill Gates (Jude, weil wohlhabend) uns einen Mikrochip verpflanzen wollen, damit wir zu willenlosen Sklaven umprogrammiert werden können.
Dieser Meinung sind übrigens nicht nur die schmuddeligen Neonazis aus der Tagesschau, sondern durchaus freundliche Menschen aus Verwandtschaft und Nachbarschaft wie »die nette Freundin aus dem Volleyballverein, der geistig immer noch so rege Großonkel, die hilfsbereite Mutter aus der Kita-Gruppe und der eloquente Kollege von der anderen Uni«. Sie alle teilen plötzlich zutiefst antisemitische Webseiten, Videos oder vermeintliche »Experteninterviews«, die die »wahren Hintergründe« dieser Krise offenbaren sollen. Am Ende steht häufig fest: Die wahren Hintermänner, das sind die Juden.
All dies macht derart fassungslos, wütend und rasend, dass die eigene Selbstbeherrschung auf eine überaus harte Probe gestellt wird. Am liebsten möchten man dem coronialen Schild-Bürger sein Anne-Frank-Schild aus den Händen reißen und ihm derart feste über seine erbärmliche Rübe ziehen, dass sich in seinem wirren Kopf alles Durcheinandergeratene wieder an seinen richtigen Platz zurechtruckelt. Doch dies kann nur und darf nur ein herrlicher Tagtraum bleiben. In einer liberalen Demokratie sind es Justiz, Polizei, Politik und Presse, die als Organe des Staates verantwortlich sind für Gewaltmonopol und gesellschaftliche Ordnung.
Und genau deshalb sehe ich schwarz.
Dieselbe Polizei, die während der Stuttgart21-Demos kein Problem darin sah, mit Tränengas und Wasserwerfern Kinder und Alte abzuschießen, bis einzelnen Rentnern gar ihre Augen aus den Augenhöhlen fielen. Oder die bei den Demos im Hambacher Forst mit Maschinenpistolen und panzerähnlichen Fahrzeugen einmarschierte, um Umweltschützer aus den Bäumen zu holen. Diese Polizei agiert bei den zutiefst antisemitischen Corona-Demos mancherorts ungewohnt behutsam. Die Gewerkschaft der Polizei, nicht unbedingt für ihre Zurückhaltung bekannt, meinte sogar, dass »Teilnehmende an sogenannten Hygienedemos nicht pauschal kriminalisiert werden« dürften.
Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, der bereits während der Ausschreitungen in Chemnitz eher glücklos agierte (»Sind wir uns darüber einig, dass der Hitlergruß nicht okay ist?«), gesellte sich ohne Mundschutz und jeglichen Sicherheitsabstand zu den Corona-Demonstranten und versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Warum er keinen Mundschutz trug, erklärte er folgendermaßen: »In jedem anderen Kontext hätte ich meine Maske aufgesetzt, aber hier und heute wollte ich damit meinen Respekt zeigen.« Respekt zeigen, ins Gespräch kommen, zuhören, mit Menschen, die ihn als »Corona-Lügner« beschimpfen.
Und dann ist da noch Nikolaus Blome, der im »Spiegel« neuerdings eine Kolumne mit dem Titel »Jetzt erst recht(s)« veröffentlicht. Sein aktueller Text lautet »Nehmt die Irren ernst!« Und weiter: »Corona-Proteste: Nichts gelernt, Angela Merkel?« Im Kern geht es ihm darum, dass Angela Merkel Schuld ist am Aufkommen der AfD und der rechten Umtriebe in diesem Land, weil sie die Pegida-Proteste nicht ernst genommen habe. Der Kanzlerin unterstellt er tatsächlich: »Ob ihr da seid oder nicht, uns hier oben reicht es, wenn wir euch nicht sehen. Was man am Narrensaum der Republik nicht beim Namen nennt, ist bald wieder weg. So dachte auch Angela Merkel«.
»Ernstnehmen« soll man also die Menschen, die zurzeit in Scharen antijüdische Ressentiments verbreiten, »nicht pauschal kriminalisieren«, »Respekt zeigen«. Solche Sachen.
Wie kann das alles sein? Wie kann alles das ausgerechnet in Deutschland sein?
In den vergangenen 75 Jahren gab es nicht einen einzigen Zeitpunkt, an dem die Gefahr durch rechten Terror und rechten Extremismus nicht die mit Abstand größte Bedrohung in diesem Land gewesen wäre. Und ebenfalls seit 75 Jahren gab es nicht einen einzigen Tag, an dem man ebenjene Gefahr nicht verschwiegen, verharmlost oder ignoriert hätte.
Über 200 Todesopfer rechter Gewalt in der wiedervereinigten Bundesrepublik, der letzte rechtsextreme Terroranschlag mit neun Todesopfern erst drei Monate her, der letzte antisemitische Anschlag mit zwei Todesopfern (wir erinnern uns: die Holztür!) erst ein halbes Jahr.
In dieser Gemengelage die Nazis, die Antisemiten, die Rechtsextremen und ihre Armada an Mitläufern, Mitwissern und Wegsehern zu verharmlosen, ist Wahnsinn! Dieser Staat, unser Staat muss seine Wehrhaftigkeit beweisen, indem er keinen (!) Millimeter zurückweicht, indem er die Grundsätze von Demokratie und Menschenwürde mit Klauen und Zähnen verteidigt.
Uns allen muss klar sein, dass jeder einzelne, der sich an solchen rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Umtrieben beteiligt, Gegner unserer liberalen Gesellschaft und ein Feind unserer Freiheit ist.
Und dieser Feind, darüber ist kein Zweifel, dieser Feind steht rechts.
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