Die guten Wutbürger

Wie sich besorgte Menschen iim thüringischen Arnstadt gegen »besorgte« Bürger stellen

  • Sebastian Haak, Arnstadt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Tod kann – jedenfalls aus seiner Perspektive – stolz sein auf das, was er in den vergangenen Wochen allein im kleinen und beschaulichen Thüringen angerichtet hat. Auf dem Marktplatz in Arnstadt ist das an diesem Montagabend zu besichtigen. Der Tod geht hier deshalb zufrieden auf und ab.

Blickt er zu seinen Füßen, sieht er Gräber über Gräber. Auf allen Einzelgräbern steht ganz oben »Ruhe in Frieden«, darunter »geboren als Menschen, gestorben an Covid-19«, ganz unten der Landkreis, in dem die Menschen aus dieser Welt geschieden sind: Sonneberg, Gotha, Greiz, Saale-Orla… Vor allem in diesen vier Thüringer Kreisen sind Männer und Frauen seit Beginn der Corona-Pandemie an der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. In der Mitte des Marktplatzes steht ein großer Grabstein für sie alle, darauf die Zahl 144. So viele Menschen sind nach Zählung der derer, die diesen Friedhof für ein paar Stunden angelegt haben, inzwischen in Thüringen im Zusammenhang mit dem neuartigen Corona-Virus ums Leben gekommen. »Jeder von ihnen war eine Mutter, ein Vater, ein Sohn, eine Tochter«, sagt der Tod.

Nicht alle allerdings sind beeindruckt von dieser Kunstinstallation. Vor allem nicht die etwa 200 Menschen, die sich unweit des Absperrbands treffen, das den Marktplatz und damit den provisorischen Friedhof umspannt. Eigentlich wollten sie auf diesen Platz, um sich hier wie schon an den vergangenen Montagen zu dem zu treffen, was manche einen »Hygienespaziergang« nennen – und was am Ende nichts anderes ist als eine unangemeldete Kundgebung, mit der die Teilnehmer gegen die aus ihrer Sicht ungerechtfertigten coronabedingten Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens in Deutschland protestieren. Weil der Platz nun aber besetzt ist, sammeln sie sich in einer Seitenstraße und schauen recht ungläubig auf die Gräber. Kurz nach sieben Uhr klatschen sie sich dann – so, wie sie es schon früher getan haben – Mut zu. Dann spazieren sie los.

Diejenigen, die da durch die Innenstadt Arnstadts ziehen, bilden ziemlich genau die Mischung von Menschen ab, über die in den vergangenen Tagen so viel gesprochen und geschrieben und gesendet worden ist. Und sie spazieren unter ziemlich genau den Bedingungen, die zuletzt so scharf kritisiert worden sind. Scheinbar ganz normale vor allem ältere Männer sind unter ihnen, sogar eine Mutter mit zwei Kindern, die dem Anschein nach noch nicht allzu viele Jahre in die Schule gehen. Zudem stadtbekannte AfD-Männer, NPD-Leute und noch mehr Rechtsextreme.

Die Hygieneregeln interessieren nur wenige von ihnen – und der Staat schaut ihnen zu. Zwar wendet sich ein ziemlich einsamer, tapferer Polizist kurz vor Beginn des Spaziergangs per Megafon an die Menschen. »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei«, sagt er. Dann erklärt er, dieser Spaziergang werde von den Behörden als Versammlung betrachtet, deshalb gelte die Pflicht, einen Mundschutz zu tragen und die bekannte Abstandsregel. Dutzende und Aberdutzende der Spaziergänger wenden ihm daraufhin einfach den Rücken zu. Einige kramen tatsächlich aus irgendwelchen Taschen einen Mundschutz hervor oder ziehen die Schlauchschals, die sie tragen, über ihre Nase. Manche entfernen sich sogar ein Stück weit von den Umstehenden. Doch noch mehr Spaziergänger interessiert diese Ansage nicht. Nicht jetzt, nicht während des Laufens und auch nicht, als die kleine Menschenmenge ihren Marsch kurz unterbricht und »Die Gedanken sind frei« singt. Der Polizist und ein Mitarbeiter des zuständigen Ordnungsamtes trotten ihnen hinterher. Wenn der Rechtsstaat sich lächerlich machen will, dann so.

Das wiederum ist einer der Gründe, warum die Männer und Frauen, die den Friedhof auf dem Marktplatz aufgebaut haben, wütend sind. Da ist nicht die Art von Wut, die viele Spaziergänger umtreibt und die sich in der Vergangenheit etwa auf Pegida-Veranstaltungen hat beobachten lassen. Es ist eher eine ohnmächtige Wut darüber, dass außerhalb der abgesperrten Fläche so offensichtlich und so ungestraft gegen die Corona-Regeln verstoßen wird. »Jetzt bin ich mal gespannt, ob die hier geräumt werden«, faucht der Tod, als er sieht, dass die Spaziergänger noch immer dutzendfach gegen die Mundschutzpflicht und die Abstandsregeln verstoßen. Eine Frau neben ihm faucht zurück: »Mit den drei Polizisten hier?« Ganz am Rande des Platzes steht noch ein einzelner Mannschaftswagen der Polizei, davor drei Beamte.

Diese ohnmächtige Wut aber geht noch viel tiefer. Und sie mischt sich mit Sorge. Sorge vor dem, was die bunte Allianz der Corona-Leugner langfristig für die Zukunft der Gesellschaft bedeutet. Und welche Gefahren von diesen Menschen kurzfristig ausgehen. Wenn die Spaziergänger immer wieder – meist sarkastisch, aber zutreffend – als »besorgte Bürger« beschrieben werden, dann stehen auf dem Friedhofsgelände also die anderen besorgten Bürger. Komisch, dass über Letztere bislang kaum ein Politiker bislang gesagt hat, man müsse »ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen«.

So haben diejenigen, die hier gegen die Hygienespaziergänger protestieren, einerseits Furcht davor, von einer solchen Demonstration aus könne sich das Virus erneut sehr schnell, sehr weit verbreiten. »Ich trage acht Stunden am Tag einen Mundschutz und desinfiziere mir nach jedem Kunden die Hände«, sagt eine junge Frau, die am Rande der Gräber steht. »Und dass nur, damit die« – dann folgt ein nicht-druckbares Wort – »das alles wieder zunichtemachen.« Die Frau arbeitet als Friseurin. Ihre halbe Familie, sagt sie, gehöre zur Covid-19-Risikogruppe; also zu jenen Menschen, die ein besonders hohes Risiko haben, an der Krankheit zu sterben.

Andererseits treibt die künstlerisch aktiven Demonstranten auf dem Marktplatz um, für welche Art von Deutschland die Spaziergänger aus ihrer Sicht auf die Straße gehen. »Wir sind in einer Gesellschaft angekommen, in der manche Leute anderen Menschen gar keinen Respekt mehr entgegenbringen«, sagt Silvio Braun, einer von zwei Versammlungsanmeldern der Kunstaktion. Und das im Angesicht einer Gefahr, »die so unsichtbar und so real ist wie Radioaktivität.« Was bei den Spaziergängen kultiviert werde, sei das unbedingte Verlangen gegen etwas zu sein, auf Kosten aller anderen.

Der Tod – der mit bürgerlichem Namen Diana Hennig heißt und ebenfalls Anmelder der Kunst-Versammlung ist – redet in diesem Zusammenhang vor allem über Verantwortung und Vernunft; gleich nachdem er gesagt hat: »Wenn die sich an die Auflagen halten würden, könnten die von mir aus demonstrieren, bis der Arzt kommt.« Langfristig betrachtet nämlich, verheiße es nichts Gutes für das Land, wenn sich bei den Hygienespaziergängen eine partei- und lagerübergreifendes Milieu bilde, das durch Unvernunft und Verantwortungslosigkeit zusammengehalten werde. »Es ist ja nicht so, dass nicht auch unsere Grundrechte im Moment ein Stück weit eingeschränkt wären«, sagt der Tod. Doch diese Einschränkung würden vernünftige und verantwortungsvolle Menschen, die nicht ausschließlich an sich selbst dächten, eben akzeptieren – weil es um die Gesundheit aller gehe.

»Wir reden ja hier über Menschen«, sagt der Tod.

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