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Terrorismus gegen Frauen
Kanada stuft zum ersten Mal weltweit einen Frauenmord durch einen »Incel« als terroristisch ein
Im Februar dieses Jahres betritt ein 17-Jähriger in Toronto einen Massagesalon, er zückt ein Messer und sticht auf die Angestellten ein, bis eine von ihnen stirbt. Der Täter kennt seine Opfer nicht. Er attackiert sie, weil sie Frauen sind. In seinem Weltbild rechtfertigt das einen Mord: Er ist Teil der »Incel«- Bewegung, einer weltweiten, losen Gruppe von Männern, die sich »zu Unrecht« von allen Frauen abgelehnt fühlen – und sich im Netz darüber austauschen, wie sie sich an ihnen rächen wollen.
Tödliche Attacken auf Frauen durch Incels (von involuntary celibate = unfreiwillig zölibatär) sind nicht neu: Erst im vergangenen Jahr hatte ein 25-Jähriger mit einem Lieferwagen in einer Einkaufsstraße von Toronto gezielt Fußgängerinnen überfahren. Auch in Europa und den USA bezeichneten sich die Täter mehrerer Gewaltattacken selbst als Incels.
Zum ersten Mal überhaupt wurde eine Incel-motivierte Gewalttat jetzt als »terroristisch« eingestuft. Am Dienstag erklärten die kanadischen Behörden, dass sie die Anklage gegen den 17-Jährigen um den Vorwurf des Terrorismus erweitern.
Das wird viele zunächst verwundern: Denn unter Terrorismus versteht man im Allgemeinen Gewaltaktionen, mit denen politische oder religiöse Ziele erreicht werden sollen. Der prototypische Terrorist wird dabei von einer organisierten Zelle auf seine Tat vorbereitet, er ist Teil einer physischen Gruppe, die ihn ideologisiert. Einzelne Männer, die aus Frust Frauen umbringen, galten bislang nicht als Terroristen.
Doch unterschätzt die Einzeltäterthese die Macht der Ideologie und des Netzwerks, die sich hinter dem Begriff des »Incel« verbirgt:
Das Weltbild der Incels nährt sich aus zahlreichen antifeministischen und frauenfeindlichen Blogs, Webseiten und Foren, auf denen tradierte geschlechtsspezifische Vorurteile verbreitet werden. In diesen Erzählungen findet sich der Incel als vermeintliches Opfer wieder, den die vom Feminismus »verblendeten« Frauen zu Unrecht verschmähen. Damit »verweigern« sie ihm sein »natürliches Anrecht« auf Sex, Beziehung und darauf, bekocht und versorgt zu werden.
Einige Incels streben daher eine Rückkehr zu einer patriarchalen Ordnung an, in der Frauen ihnen unterworfen sind und ihre Rechte eingeschränkt werden. Dafür fordern sie eine »Rebellion«, in deren Rahmen sie ihre »Vormachtstellung« in der Welt verteidigen und Verbrechen gegen Frauen legitimiert werden.
Vereinzelte Nutzer setzen diese Gewaltfantasien schließlich in die Tat um: mit Messern, Maschinenpistolen und Lieferwagen, begleitet von Livestreams und kruden Bekennertweets, gefeiert von ihren Mitstreitern im Netz – der Charakter dieser Anschläge unterscheidet sich kaum vom rechtsextremistischen Terrorismus der letzten Jahre.
Das ist kein Zufall, denn die Kreise überschneiden sich: Im Manifest des Täters von Hanau findet sich das Kapitel »Frauen«, in dem er Begriffe der Incel-Szene nutzt; der norwegische Rechtsterrorist Breivik glaubte, der Feminismus sei verantwortlich für die geringen Geburtenraten der Norweger und die »Masseneinwanderung« durch Migranten. In Incel-Foren wiederum verwenden Nutzer häufig antisemitische und rassistische Narrative.
Die Verflechtung von weißer Vormachtstellung und Frauenfeindlichkeit ist Jahrhunderte alt. Sie bildet ein dickes ideologisches Fundament für neue extremistische Bewegungen und den Terror ihrer Mitglieder. Natürlich spielen neben diesen politischen Motiven auch persönliche Gründe eine Rolle: Die Incel-Täter sind oft vereinsamt, psychisch krank und erleben eine hohe sexuelle Frustration – aber das gilt für viele rechtsextreme Terroristen genau so. Auch bei ihnen herrschte lange der Mythos vom psychopathischen Einzeltäter vor – und verschleierte die ideologisierten und weit verzweigten Netzwerke, die hinter den Tätern stehen.
Dass Kanada die Incel-Attacke als Terrorismus verfolgt, rückt die Anstifter hinter dem Täter ins Visier und macht ihre Ideologie sichtbar. Das ist dringend notwendig, um präventiv gegen die Netzwerke vorzugehen und weitere Anschläge auf Frauen zu verhindern.
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