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42 Tage, die zum Träumen anregen
Das Ringen um die Deutung der unbesetzten Zeit in Schwarzenberg nach Kriegsende hält auch 75 Jahre später an
Das Nachdenken über Utopien war zu DDR-Zeiten nicht erwünscht. Als der Schriftsteller Stefan Heym im Sommer 1982 in die Stadt Schwarzenberg im Erzgebirge reiste, um über die dortigen Vorgänge im Mai und Juni 1945 zu recherchieren, folgten ihm zwei Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Das Ziel: den Autor »zu verunsichern sowie entsprechend den Möglichkeiten von seinem Vorhaben abzuhalten«. So steht es in Akten, die sich der Bildhauer Jörg Beier aus Archiven hat schicken lassen und die ihn zu einer Skulptur inspiriert haben: zwei Männer in Holz, ein Notizbuch in der Hand der eine, ein Fernglas um den Hals der andere. Die durchaus komischen Figuren zeigten »das Duell zwischen Heym und seinen Bewachern«, sagt Beier: »Eine groteske Situation.«
Die Skulptur sollte Beiers Beitrag zu einem Jubiläum sein. Zum 75. Mal jährt sich derzeit eine kuriose Episode in der Schwarzenberger Geschichte, die auch Heym anregte: die unbesetzte Zeit im Mai und Juni 1945. Nach der Befreiung am 8. Mai zogen in die 2000 Quadratkilometer große Amtshauptmannschaft Schwarzenberg, in der 300 000 Menschen lebten, weder die Rote noch die US-Armee ein. Um dennoch Anarchie und Chaos zu verhindern, bildeten vier Kommunisten und zwei SPD-Mitglieder einen Aktionsausschuss, der die alltäglichen Geschicke lenkte. Lebensmittel wurden organisiert, eine Zeitung aufgelegt, Notgeld und Briefmarken gedruckt. Neben praktischen traf das Gremium auch politische Entscheidungen. So wurde NSDAP-Bürgermeister Ernst Rietzsch verhaftet. 42 Tage blieb Schwarzenberg autonom, bevor am 24. Juni sowjetische Truppen in das an Uran reiche und daher in den Folgejahren strategisch wichtige Gebiet einzogen.
Beier fasziniert an dem Kapitel seiner Heimatgeschichte der Umstand, dass »Menschen ihr Schicksal in die Hände genommen und eigenverantwortlich gehandelt haben«. Das sei »der Kern von Demokratie«. Es ist ein Begriff, den auch Heym anführte. Er sah den Roman über die »Republik Schwarzenberg«, der nach den Recherchen im Erzgebirge entstand, als eine Art Gedankenspiel: darüber, wie »auf befreitem Boden, aber ohne Druck vonseiten fremder Mächte« der Versuch unternommen wurde, »Demokratie und Sozialismus zu verknüpfen«. Den DDR-Oberen passte der Ansatz nicht. Das Buch habe eine »antisowjetische Haltung« und arbeite »objektiv den Feinden des Sozialismus ... in die Hände«, hieß es in einem Gutachten des MfS. »Schwarzenberg« erschien 1984 nicht in der DDR, sondern im Westen.
Nach 1989 nahmen sich Beier und seine Mitstreiter aus dem Künstlerverein »Zone« der Idee an und spannen sie fort. Sie riefen eine virtuelle »Freie Republik Schwarzenberg« aus und druckten später auch eigene Pässe, auf denen der Kreis goldener Sterne der Europäischen Union um eine erzgebirgische Fichte ergänzt ist. Die Kneipe, die Beier in der Altstadt von Schwarzenberg unweit des Schlosses betreibt, ist laut einem Schild neben der Tür die »Ständige Vertretung« der Freien Republik. Beier, der als junger Mann in der DDR anderthalb Jahre wegen »staatsfeindlicher Hetze« inhaftiert war, sagt, ihn interessiere der »utopische Ansatz hinter den historischen Fakten« - und beispielsweise auch die Frage, was sich nach Ende der DDR in Ostdeutschland hätte entwickeln können, wenn es erneut keinen politischen Einfluss von außen gegeben hätte.
Sein Ansatz war nie unumstritten. Kritiker warfen Beier und seinen Mitstreitern immer wieder vor, eine historische Episode zu »verharmlosen« und zu verklären. So erklärt die Lokalhistorikerin Leonore Lobeck in ihrem Ende der 1990er Jahre erschienenen Buch über die »Schwarzenberg-Utopie«, die »kommunistischen Akteure« hätten »nicht Freiheit und Selbstbestimmung« gebracht, sondern seien die »in ihren Köpfen fremdbestimmten neuen Herrscher« gewesen. Der nahtlose Übergang von einer zur nächsten Diktatur, den konservative Historiker für den Osten Deutschlands insgesamt postulieren, habe sich also auch in der unbesetzten Zone vollzogen, so Lobeck.
Beier hat indes eines ihrer Kernargumente in akribischer Kleinarbeit widerlegt. Für Lobeck waren die Verhaftung von Bürgermeister Rietzsch wie auch seine spätere Verurteilung und Hinrichtung durch ein sowjetisches Militärgericht Beispiele dafür, wie neue Machthaber neues Unrecht praktizierten. Beier, der die Festnahme des NSDAP-Politikers 1945 auf Stadtfesten schon mal im Kübelwagen nachstellte, zeigte 2010 in einer materialreichen Ausstellung, dass Rietzsch wegen seiner Rolle bei der Ermordung von Juden in Belarus verurteilt wurde. Doch die Kritik bleibt. Lobecks Buch, das nun »Die Schwarzenberg-Legende« heißt, erschien 2018 in vollständig überarbeiteter sechster Auflage. In einem am 15. Mai erschienenen »Spiegel«-Artikel war ebenfalls von der »schönen Legende« der Freien Republik die Rede. »Tatsächlich«, heißt es darin, »wurde zügig die nächste Diktatur angebahnt.«
Der Streit um die Deutung der Geschichte hält also an. Allerdings kann er zum 75. Jahrestag kaum direkt und öffentlich geführt werden. Eine Veranstaltungswoche in Schwarzenberg mit Vorträgen, Lesungen und Führungen wurde wegen der Corona-Pandemie abgesagt. Sie soll unter dem Titel »75+1« nun im kommenden Frühjahr nachgeholt werden.
Beier will seine Skulptur vielleicht dennoch schon dieses Jahr zeigen: in einem Schaufenster seiner Kneipe, ergänzt um den Text der »Verfassung der Republik Schwarzenberg«, wie sie in Stefan Heyms Roman entworfen wird. Manches barg Zündstoff in der DDR; Reise- und Pressefreiheit zum Beispiel. Anderes sei »auch heute interessant«, sagt Beier. So findet sich eine Passage zur Wirtschaft, die »der sozialen Gerechtigkeit« zu dienen habe. Ohne diese seien »alle Rechte und Freiheiten illusorisch«. Die Klarstellung, was für eine Art Utopie sich mit der »Freien Republik Schwarzenberg« verbindet, ist nach Ansicht Beiers auch deshalb geboten, weil der Begriff zuletzt von unerwünschter Seite vereinnahmt wurde. Er habe ihn bei rechten Demonstrationen auf Schildern gelesen, berichtet der Künstler. »Wenn ein Thema nicht richtig besetzt wird, reißen es sich andere unter den Nagel«, sagt er. Was Rechte damit verbinden, ist für Beier nicht Traum, sondern Albtraum.
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