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Die wesentlichen Anliegen des spätkapitalistischen Urlaubers
Best of Menschheit, Folge 21: Reisen
Für Hunderttausende Jahre praktizierte der Homo sapiens ganz ohne Hygiene-Demos Social Distancing. In Sippen zogen die Frühmenschen wohl herum, ernährten sich zwangsweise abwechslungsreich und verteilten sich gemütlich über den Planeten. Erwischte ein tierischer Virus eine Gruppe, dann nur diese. Die anderen konnten weiter und weiter über bald die gesamte Erde stapfen. Dann kamen der Ackerbau, das Korn, das Brot. Der Mensch blieb immer häufiger an der Stelle, die er beackern konnte, ernährte sich überwiegend von erhitztem Pflanzenmehlbrei. Für die Gesundheit des einzelnen Menschenexemplars war das aller Wahrscheinlichkeit nach keine gute Entwicklung, obendrein reisten von da an Viren schneller als ein Sapiens konnte. Doch war es für die Spezies gesamt der Energieschub, der sie später die gesamte Natur unterjochen ließ - und Viren noch bessere Reisemöglichkeiten gab.
Was aber bei Weitem nicht der einzige Schaden war, den die Erfindung von »Nutzpflanzen« mit sich brachte: Welch dumpf chauvinistische Kultur sich aus der Kombination Heimat und Brot ergibt, lässt sich auch 10 000 Jahre nach der humanen Sesshaftigkeit noch gut erkennen - an Deutschland und seinem Schmierfettlappenfetisch. Wer hier lebt, zwischen 1000 angeberischen Brotsorten und ihren stolzen Belegern, spürt rasch, wie wichtig die freie Bewegung über diesen - noch - zauberhaften Planeten geblieben ist.
Die Menschheit hat im Kapitalismus zu sich gefunden und mit dem, was euphemistisch »Klimawandel« genannt wird, zu ihrem Ende. Zeit also, kurz vor Schluss zurückzublicken auf ein paar Tausend Jahre Zivilisation und all das, was trotz allem gar nicht so übel war.
Es ist kein Wunder, dass über die Geschichte hinweg das Reisen, und sei es nur das imaginierte, stets mit Erkenntnis und Entwicklung verbunden war. Die abendländische Kultur erwuchs mehr oder minder aus einer reichlich vertrackten Kreuzfahrt eines griechischen Kriegers, und ab da gab es kaum einen klugen Menschen, der an einer Stelle hocken blieb. Ja, gut, Immanuel Kant. Aber wäre der mal aus seinem elenden Königsberg rausgekommen, hätte er sich womöglich Sätze gespart wie: »Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen« - oder den, wonach die aus Kant’scher Sicht am wenigsten Weißen »von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege«, hätten.
Zwar besteht am Ende jeder lebens- und damit auch bereisenswerte Fleck doch wieder nur aus Landerhebungen, Bäumen und größeren Wasseransammlungen (oder der markanten Abwesenheit mindestens eines davon), doch ist die Kombination und exakte Beschaffenheit immer wieder ein Ereignis. Und obendrein eine Erholung von der Langeweile und Pein des Alltäglichen. Den Menschen treibt es immer wieder weg von seinem Fleck. So wenig kann er sich mit der Sesshaftigkeit anfreunden, dass er selbst in der Ahnung davon, dass sein Herumgefliege und -geschipper Kindern und Enkeln einen sterbenden Planeten beschert, selbst im Wissen darum, dass er einen tödlichen Virus verteilt, sich das Reisen nicht nehmen lassen will.
Wobei er das Reisen längst »Urlaub« nennt. Denn es ist kein Reisen mehr, jene weiträumige Fortbewegung, die sprichwörtlich bildet, sondern Flucht ins Event, das der kurzen Ablenkung vom ständigen Verkauf der Arbeitskraft dient. Zehn Tage woanders das Fleisch auf einem anderen Markt feilbieten oder die Natur zu dem Fitnessstudio machen, das einem noch effizienteres Ausgebeutetwerden erlaubt, sind die wesentlichen Anliegen des spätkapitalistischen Urlaubers. Oder alternativ: Als »Backpacker« für die Vermüllung des Planeten noch nicht mal einen angemessenen Preis zahlen zu wollen.
Aber immerhin: Sollte das Coronavirus den Urlaub trotz der Lobby der Tourismusindustrie töten, könnten noch einmal höchst gemütliche Reisen möglich werden. So als Zirkelschluss fürs Menschengeschlecht.
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