- Berlin
- Häusliche Gewalt
Kaum Angebote für Gewaltopfer
Experten gehen von viel mehr häuslichen Übergriffen während der Coronakrise aus
»Das Problem ist, dass die Frauen nicht in unserem Hilfesystem ankommen«, erklärt Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) am Montag im Gesundheitsausschuss des Abgeordnetenhauses. Mit ihrer Einschätzung, dass mit den Verordnungen zur Eindämmung des Coronavirus auch ein starker Anstieg häuslicher Gewalt verbunden ist, ist die Senatorin nicht allein. Seit diese Auswirkungen des Lockdowns aus zeitlich früher betroffenen Ländern wie China und Italien gemeldet wurden, waren frauenpolitische Netzwerke und Träger von Unterstützungsangeboten auch in der Hauptstadt sehr alarmiert und die Befürchtungen groß.
Zu recht: Viele Beratungen mussten angesichts der Kontaktbeschränkungen schließen, viele Menschen sahen sich angesichts der häuslichen Isolation heftigen psychischen Belastungen ausgesetzt, die in physische Gewalt umschlagen kann. Treffen tut diese die Schwächsten: Die Hotline der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) hatte in Bezug auf Anrufe von betroffenen Frauen zuletzt von einem Anstieg um 30 Prozent gesprochen, um die Osterfeiertage Mitte April seien es sogar 50 Prozent mehr gewesen.
Die Gewaltschutzambulanz an der Charité hat für die vergangenen Wochen eine deutliche Zunahme schwerer Misshandlungen festgestellt: Liegt der Anteil an Gesichtsverletzungen, Würgemalen, Stichen sonst eher bei 60 Prozent der Fälle, ist er in der Coronakrise auf 90 Prozent gestiegen.
Dabei handelt es sich laut Ambulanz und Innenverwaltung um Gewaltopfer, die von der Polizei zur Charité begleitet werden. Man geht davon aus, dass viele andere betroffene Menschen die Hilfsangebote derzeit nicht eigenständig in Anspruch nehmen können.
Da etwa drei Monate zwischen Anzeigenaufnahme und Bearbeitung vergehen können, kann die Polizei die Zunahme noch nicht in Zahlen belegen. Die Zahlen von Anzeigen und Wohnungsverweisen ähneln bislang denen des Vorjahres. Allein der Anstieg der Funkwageneinsätze um 25 Prozent deutet darauf hin, dass die Polizei öfter bei Fällen mutmaßlicher häuslicher Gewalt gerufen wird. clk
Kalayci sieht darin zwar keinen Anlass zur Beruhigung, bezeichnet die Zahlen aber als »moderat«. »Wenn mehr Frauen anrufen, ist es auch gut, dass ist ja, was wir wollen«, so die Senatorin. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Plakate mit Telefonnummern zu Hilfsangeboten, die in immer mehr Supermärkten, Apotheken und U-Bahnhöfen ausgehängt sind. Für Maren Jasper-Winter von der FDP ist das längst nicht ausreichend: »Es muss dazu auch Hilfstelefone geben, von denen aus man direkt im Supermarkt oder in der Apotheke telefonieren kann«, so die frauenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus.
Auch eine Erreichbarkeit via Nachrichtendienst und eine Ausweitung der Erreichbarkeit der BIG-Hotline auf 24 Stunden müsse es geben, fordert Jasper-Winter. Jetzt, wo Schulen und Kindergärten wieder öffnen, müsste zudem direkt in den Einrichtungen mehr mit den Kindern, die potenzielle Gewaltopfer sind, gesprochen werden. Auch hier sieht Jasper-Winter die BIG in der Verantwortung, der zuletzt allerdings Mittel für diese Art der Präventionsarbeit gekürzt wurden.
Trotz der von vielen Seiten geäußerten Befürchtungen reichen die Plätze in den Frauenhäusern derzeit noch aus. Die Auslastung habe in den vergangenen Wochen zwischen 65 und 72 Prozent gelegen, sagt Staatssekretärin Barbara König (SPD). Sie bezieht sich dabei auf die 324 Plätze in sechs Frauenhäusern sowie zwei »Stadthotels« mit 100 beziehungsweise 30 Plätzen, die Berlin vorsorglich angemietet hatte. Das kleinere Hotel stehe aktuell leer, das größere sei etwa zur Hälfte belegt. Man sei »pandemiebedingt flexibel«, wenn der Bedarf steige, ergänzte Dilek Kalayci.
Aktuell sind 40 Frauen und 19 Kinder im »Stadthotel I« untergebracht. Die Zahl entspricht ungefähr der geplanten Belegung des seit vielen Jahren geforderten siebten Frauenhauses, das mittlerweile bewilligt wurde. An einem achten arbeite man derzeit, heißt es aus Kalaycis Senatsverwaltung. Wenn ab Montag auch wieder Tourist*innen in den Stadthotels absteigen, scheint das auch notwendig.
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