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Zum Ausgleich verpflichtet
Grundrechtereport kritisiert Missstände auf Wohnungsmarkt und im Gesundheitswesen
Das Gesundheitswesen 2020 in Deutschland: Geburtskliniken werden geschlossen, weil sie nicht lukrativ genug sind. Herzkatheteruntersuchungen dagegen werden übermäßig angeordnet, weil sie hohe Einnahmen versprechen. Ob jemand zwingend eine Behandlung benötigt, scheint zweitrangig - Profit steht im Vordergrund. Pflegekräfte leiden derweil unter Arbeitsverdichtung, Outsourcing und schlechter Bezahlung. »Grundrechte von Patienten und Arbeitnehmern werden gefährdet und eingeschränkt«, sagte die Krankenschwester Ulla Hedemann am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung des 24. Grundrechte-Reports zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Sie forderte: »Wir brauchen ein Gesundheitssystem, was patientenorientiert ist.«
Bürger- und Menschenrechtsorganisationen veröffentlichen seit 1997 den Grundrechte-Report. Herausgeber der jährlichen erscheinenden Untersuchung sind unter anderem das Grundrechtekomitee, die Humanistische Union, die Neue Richtervereinigung, Pro Asyl und der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein. Erstmals ist auch die Gesellschaft für Freiheitsrechte dabei. Der aktuelle Report besteht aus 39 Beiträgen, die sich um ein breites Themenspektrum drehen. Untersucht werden Entscheidungen von Parlamenten, Behörden und Gerichten, aber auch von Privatunternehmen. Im Fokus stehen dieses Jahr vor allem soziale Missstände im Gesundheitswesen sowie auf dem Wohnungsmarkt.
»Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verpflichtet den Staat dazu, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen. Es ist unstrittig, dass der Staat dafür auch in den freien Markt eingreifen darf«, betonen die Herausgeber im Vorwort des Berichtes. Dies habe das Bundesverfassungsgericht im Sommer 2019 mit seiner Entscheidung zur Mietpreisbremse auch bekräftigt. Der Staat stehe demnach in der Pflicht, der Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken. »Wir haben in Berlin 85 Prozent der Bevölkerung, die zur Miete wohnen«, sagt Ingrid Hoffmann von der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« bei der Vorstellung des Berichts. Für diese Menschen sei es von Bedeutung, soziale Rechte im Gesetz zu verankern. »Gesundheits- und Wohnungsversorgung mit Verfassungsrang wären wünschenswert«, so Hoffmann. Auch die Grundsicherung Hartz IV stand dabei in der Kritik der Autoren. »Kürzungen des Hartz-IV-Satzes sind weiterhin möglich und verkehren das Existenzminimum zu einer ironischen Worthülse«, hieß es.
Bei der Vorstellung des Reports wurde ebenfalls die Bezugname der jüngsten bundesweiten Corona-Demonstrationen auf die Bürger- und Grundrechte diskutiert. »Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn die Einhaltung der Grundrechte eingefordert wird«, sagte Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee. Die Kundgebungen der »Corona-Rebellen« seien hier jedoch kritisch zu sehen. »Grundrechte sind ein Gesamtpaket. Man kann nicht nur die eigene Freiheit propagieren, sondern muss auch die Rechte der Mitmenschen respektieren«, sagte Winkler. Gesellschaftliche Solidarität hänge mit den Grundrechten zusammen. »Es ist notwendig, alle staatlichen Verordnungen in Frage zu stellen, aber das muss solidarisch und mit Achtsamkeit geschehen und unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse.« Winkler verwies diesbezüglich auf antirassistische Demonstrationen unter dem Motto »Lasst niemanden zurück« zur Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager.
Weitere Themenbeiträge behandelten unter anderem die Einführung der erweiterten DNA-Analyse im Strafprozessrecht, die Gefährdung von Umwelt und Gesundheit durch die Nitratbelastung des Grundwassers, der Einsatz von Elektroschockwaffen im Polizeistreifendienst, rechtsradikale Netzwerke in Sicherheitsbehörden sowie die Ausweitung der Abschiebehaft.
Das Fazit zum Stand der Grundrechte fiel eher ernüchternd aus. »Wir sehen einen starken Trend zur Überwachung, zur Ausweitung der Befugnisse von Sicherheitsbehörden sowie einen Anstieg von institutionellem Rassismus«, so Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee. Auch die Schere zwischen Arm und Reich öffne sich weiter. Zivilgesellschaftliches Engagement gegen solche und andere Missstände sei im vergangenen Jahr jedoch »wieder allzu oft erschwert« worden, resümieren die Autoren.
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