Der große Einbruch kommt erst noch

Unabhängige Sozialberatungen sind in der Coronakrise enorm gefordert.

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war uns sofort klar, dass wir weitermachen müssen«, erinnert sich Kai Jensen an den Beginn des Corona-Lockdowns im März. »Wir haben bislang keine E-Mail-Beratung angeboten, weil wir Menschen, die unsere Hilfe brauchten, immer ermutigen wollten, im Gespräch so viel von ihrer Geschichte zu erzählen, wie es ihnen nötig erscheint«, erklärt der Sozialberater von der Erwerbsloseninitiative Basta in der Schererstraße in Berlin-Wedding. »Wir wollten schnell auf die vielen neuen Ängste eingehen, aber auch unsere eigenen respektieren«, beschreibt Jensen die dann fixe Umstellung von analoger Beratung auf eine per E-Mail, Telefon oder Videochat - bei einer Initiative, die vor allem für ihre solidarischen Begleitgänge zu den Berliner Jobcentern bekannt ist, kein leicht zu vollziehender Schritt. Aber ein wichtiger.

Zwar trat Ende März die Sonderregelung in Kraft, mit der durch die Pandemie in Not geratene Hartz-IV-Neuantragsteller begünstigt werden sollten. Aber die Einstellung des Publikumsverkehrs in den Häusern der Arbeitsagentur hatte für die bereits über 350 000 Bezieher*innen von Hartz-IV-Leistungen in Berlin weniger erleichternde Folgen: Für sie bedeutet die Coronakrise, dass ihnen die Jobcenter noch mehr Post und E-Mails schicken, von denen sich der Großteil im bürokratischen und oft schwer verständlichem Amtsdeutsch bewegt.

Immer mehr Menschen geben ihre Telefonnummer an, um der Forderung nach Erreichbarkeit nachzukommen, sagt Jensens Kollegin Claudia Kratsch. Dadurch steige aber auch der Druck auf allen Kanälen. Viele würden die Aufforderung erhalten, sich auf frei werdende Stellen in systemrelevanten Berufen zu bewerben. Der Umstand, dass gerade in der Gruppe von Hartz-IV-Empfänger*innen auch viele Menschen mit Vorerkrankungen zu finden seien, die mit ein Grund für den Leistungsbezug sein können, stelle da kein Hindernis dar, berichtet die Beraterin. Andersherum seien die Jobcenter für Nachfragen selten erreichbar, vergleichbar mit der auch sonst herrschenden Situation. Ob und wenn ja, wann sich dies ändern würde, darauf konnte auch der Geschäftsführer der Berlin-Brandenburger Regionaldirektion der Arbeitsagentur, Marcus Weichert, im Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses Ende Mai keine Antwort geben. Ebenso wenig ließ sich klären, wann arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wieder hochgefahren würden.

Zu den bisherigen Leistungsbezieher*innen kommen nun nämlich noch Zehntausende, die mit der Coronakrise ihren Job verloren haben - von heute auf morgen, häufig entgegen jede arbeitsrechtliche Auflage, erzählt Jensen. Vor allem viele EU-Migrant*innen, denen laut Gesetz seit 2010 Sozialleistungen verweigert werden können, sind betroffen, wenn sie ihre häufig prekären Beschäftigungen verlieren. »Davon kommen jetzt viel, viel mehr zu uns«, sagt Kai Jensen. Das zeige, dass »der große Einbruch« erst noch komme. »Die Menschen haben unverschuldet ihren Job verloren, aber ebenso wenig, wie sie daran schuld sind, können sie dies so nachweisen, wie es die Jobcenter von ihnen verlangen«, ergänzt Claudia Kratsch.

Eine andere große Gruppe, die nun Beratung brauche, seien die Freiberufler*innen, die die Corona-Soforthilfe der Investitionsbank Berlin beantragt und erhalten haben. Jetzt seien die Selbstständigen unsicher, in welchem Umfang sie von Rückforderungen betroffen sein könnten: »Viele haben Sorgen, etwas falsch zu machen, auf keinen Fall wollen sie mit der negativen Erzählung von den Betrugsfällen in Verbindung gebracht werden«, sagt Kratsch.

Sie berichtet auch von Gängeleien durch Jobcenter-Mitarbeiter*innen, die sich nicht an die Auflagen des erleichterten Zugangs zur Leistungsbeantragung in der Coronakrise halten würden. Immer wieder werde bei Anträgen eine Personalausweiskopie verlangt, die derzeit nicht zwingend vorgelegt werden muss. Etliche Betroffene berichteten, dass ihre Bitten um Weiterbildung abgelehnt würden. Stattdessen werde ihnen nahegelegt, sich auf schlecht bezahlte Jobs zu bewerben. Einer Familie wird die Kostenbeteiligung an der Mitgliedschaft ihres Kindes im Sportverein infrage gestellt, einer anderen die anfallenden Kosten für die Musikstunden ihres Nachwuchses. »Das sind Gelder aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, die rechtswidrig einbehalten werden«, kritisiert Kratsch. Ein schwerer Vorwurf, der allerdings nicht aus der Luft gegriffen ist, wie Dokumente belegen, die »nd« vorliegen.

Von einem Lockdown war die kleine Sozialberatung also meilenweit entfernt. Im Gegenteil. Gerade durch das niedrigschwellige Angebot der E-Mail-Beratung wurde deutlich, so Kratsch, dass nun mehr Menschen erreicht würden. So öffnete die Coronakrise mit ihrem Abstandsgebot vielen den Weg in eine Beratung, die diese eigentlich schon länger benötigten, für die der Besuch einer Sozialberatung allerdings Stress bedeutet. Das sei auch nicht verwunderlich, sagt Kratsch: »Ein kleiner Raum, in dem zu viele Menschen warten, die Hilfe benötigen, das ist nicht nur zu Corona-Zeiten für viele eine Herausforderung.«

Andere hingegen schließt die aktuelle Lage nun aus: »Die Wohnungslosen kommen gar nicht mehr«, erzählt Kai Jensen. Sie müssen sich die Notversorgung an anderer Stelle suchen. Statt gemeinsamer Küchennutzung in der Schererstraße heißt es jetzt andernorts Händewaschen und geschmierte Stullenpakete abholen. Claudia Kratsch, die auch bei Klik, einem Hilfsverein für wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen in der Torstraße, Beratung anbietet, berichtet von regelrechten Massenaufläufen von Betroffenen: »An einem Tag kamen dort 368 Leute.«

Einen Erfolg im Kampf gegen menschenunwürdige Auslegungen des Sozialgesetzes durch Jobcenter zeigt das erste positive Urteil des Berliner Sozialgerichts vor dem Hintergrund der Corona-Regelung. Das Gericht hatte das Jobcenter Steglitz-Zehlendorf am 20. Mai verpflichtet, die als unangemessen hoch eingestuften Mietkosten einer alleinerziehenden Mutter und ihrer beiden minderjährigen Kinder vorläufig weiter zu übernehmen. Das Jobcenter hatte ihr mitgeteilt, dass die Miete nur noch bis einschließlich März 2020 übernommen würde. Intensive Bemühungen, eine neue Wohnung zu finden, wollte es nicht erkannt haben. Nun wurde es verpflichtet, bis Ende September 2020 zu zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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