Geschacher und Annexionsgelüste

Die neue israelische Regierung hat bei ihren kontroversen Vorhaben kaum Konsequenzen zu befürchten

  • Tsafrir Cohen
  • Lesedauer: 5 Min.

Für die Opposition ist es der absolute Super-GAU: Nach anderthalb Jahren Dauerwahlkampf und drei Urnengängen, in denen die Opposition lautstark die Person des amtierenden Ministerpräsidenten in den Mittelpunkt stellte, ihn als Zerstörer von Rechtsstaat und Demokratie anprangerte und erfolgreich eine Mehrheit in der Knesset erringen konnte, ist es Benjamin Netanjahu letztlich doch gelungen, zentrale Akteure des Oppositionslagers für eine Regierungskoalition zu gewinnen. Mit 73 von 120 Knesset-Abgeordneten weiß das nunmehr fünfte Kabinett Netanjahu eine bequeme Mehrheit hinter sich.

Für Netanjahu ging es um das persönliche Überleben, da er sich als Premierminister zu Recht bessere Chancen ausrechnet, wenn er wegen mehrfacher Veruntreuungs- und Bestechlichkeitsvorwürfen vor Gericht erscheinen muss. Folglich schürte er geschickt die von der Coronakrise verursachten Ängste der Menschen, um seinen Hauptkonkurrenten, Oppositionsführer Benny Gantz, in eine Koalition der Nationalen Einheit zu zwingen und versüßte ihm die Entscheidung, indem er das Kabinett dermaßen vergrößerte, dass die 19 abtrünnigen Oppositionsabgeordneten - etwa die Hälfte der Hauptoppositionsliste Blau-Weiß um Gantz sowie zwei der drei Abgeordneten der Arbeitspartei - unter sich sage und schreibe 15 Ministerposten aufteilen können.

Dass der dramatische Showdown zwischen den Pro- und Anti-Netanjahu-Lagern zu einem Geschacher um derart esoterische Pöstchen wie Minister für Wasserfragen oder für Gemeinschaftsbildung verkommen konnte, und dass Netanjahu nicht einmal auf die Rechtsaußenparteien um etwa seinen alten Wegbegleiter*innen Avigdor Lieberman als Mehrheitsbeschaffer angewiesen war, lässt tief blicken. Jenseits des großen Wahldramas bestand und besteht nämlich ein breiter Konsens von Rechtsaußen bis in die bürgerliche und sozialdemokratische Mitte, wenn es sich um die gesamtpolitischen Herausforderungen des Landes handelt. Dies trifft auf die Fortführung einer im Grundsatz neoliberalen Wirtschaftspolitik zu und gilt unübersehbar in Fragen von Krieg und Frieden, insbesondere beim israelisch-palästinensischen Konflikt.

Und eben hierzu stellt die Koalition jetzt entscheidende Weichen. Der Koalitionsvertrag sieht vor, schon in diesem Sommer ein Gesetz zur »Anwendung israelischer Souveränität« auf Teile der Westbank einzureichen. Dieses Gesetz baut offenbar auf dem sogenannten »Jahrhundertdeal« des US-Präsidenten Donald Trump auf. Dieser Deal sieht vor, dass Israel etwa 30 Prozent der Westbank annektiert. Damit wird eine schon heute bestehende Situation legalisiert und festgeschrieben, bei der die Palästinenser*innen in mehrere voneinander geografisch getrennte, dicht bevölkerte Enklaven verdrängt werden. Dass die palästinensische Seite dieses »Homeland-System« rundweg ablehnt, stört die Trump-Administration noch den israelischen Mainstream nicht im Geringsten.

Bislang vermieden es alle Netanjahu-Kabinette klarzustellen, wie sie sich eine endgültige Lösung des Konflikts genau vorstellen. Denn, unter dem Mantel der Uneindeutigkeit konnten sie nach und nach die Realitäten vor Ort nach Gutdünken gestalten. Konkret hieß das: Immer weitere Flächen der besetzten Westbank aneignen, immer mehr eigene Staatsbürger*innen dort ansiedeln und die Infrastruktur zugunsten der Siedler*innen ausbauen.

Das war zwar eindeutig völkerrechtswidrig, führte aber zu keinerlei Konsequenzen, da die palästinensische Seite, das Ausland und friedenswillige Israelis weiterhin die Hoffnung hegten, die Zweistaatenlösung durch künftige Gespräche doch noch durchsetzen zu können. Lediglich die Rechtsaußenparteien und der rechte Flügel des Likud forderten schon vorher eine sofortige Annexion der gesamten oder von Teilen der Westbank. Um keine Flanke von rechts offen zu lassen, ging Netanjahu scheinbar auf diese Wünsche ein und versprach eine vage gestaltete Annexion, ohne je konkret zu werden. Der Wille der jetzigen Koalition, diese Annexion zu konkretisieren, dadurch eine endgültige Territoriallösung einseitig festzulegen und damit einer Zweistaatenlösung eine endgültige Absage zu erteilen, ist also ein enorm bedeutender Schnitt, der mit einigen entscheidenden Entwicklungen zusammenhängt.

Zum einen forcieren ausschlaggebende Teile der US-amerikanischen Administration eine solche Annexion. Man munkelt gar, sie möchten die Annexion mehr als ihre israelischen Gegenüber, damit Trump auf dem Weg zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst seiner evangelikalen und neokonservativen Wählerschaft einen außenpolitischen Erfolg vorweisen kann. Des Weiteren steht die EU lange nicht mehr geschlossen hinter der Zweistaatenlösung, und etwaige Sanktionen, ähnlich denen, die gegen Russland aufgrund der Krim-Annexion verhängt wurden, wären heute undenkbar. Dafür haben Israels Ethnonationalist*innen zu viele Gesinnungsgenoss*innen. Ungarns Außenminister Péter Szijjártó von der nationalkonservativen Fidesz hat jedweden Druck auf Israel abgewiesen - eine ernst zu nehmende Aussage angesichts des Einstimmigkeitsprinzips der EU in außenpolitischen Fragen.

Auch im für Israel weitaus bedeutenderen Westen Europas muss die israelische Regierung kaum Konsequenzen fürchten. So wird die Bundesregierung, wie beim Besuch des Außenministers Maas zu sehen war, zwar gegen jede Annexion protestieren, aber keine Taten folgen lassen. Und: Angesichts weitaus grausamerer Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Region, die den israelisch-palästinensischen Konflikt relativieren, sowie einer ständigen kampagnenartigen Berieselung von interessierter Seite, jede Diskussion um konkrete Schritte gegen die israelische Besatzungspolitik mit Antisemitismus gleichzusetzen, ist auch aufseiten der Zivilgesellschaft kaum nennenswerter Protest zu erwarten. In der Folge haben die Regierenden in Jerusalem zu Recht keine Angst mehr wie vormals Südafrika mit einer Anti-Apartheid-Kampagne konfrontiert zu werden, wie sie noch die Premierminister Ehud Olmert und Ehud Barak befürchten mussten.

Die Entwicklungen im Ausland finden ihre innenpolitische Entsprechung: Im Jahr 2020 hat sich das gesamte israelische politische Gemeinwesen soweit ethnonational eingeordnet, dass sich keine einzige nennenswerte jüdische Gruppe mehr gegen eine Annexion stemmt. Die warnenden Stimmen der beiden noch lebenden Ex-Premiers des Landes, Barak und Olmert, gelten heute als geradezu randständige Positionen.

Tsafrir Cohen leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Den vollständigen Artikel finden Sie hier: www.rosalux.de/news/id/42339

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