- OXI
- Der Markt
ER
Weil wir ihn zur lebendigen Wesenheit erklären, ist der Markt eine Fiktion
Für die Politik ist er das Alpha und das Omega. Man unterwirft sich seinen Regeln, lässt ihn die Qualität von Produkten bewerten, bringt ihm Opfer, folgt seiner Logik, vertraut seinen Selbstheilungskräften, fürchtet sein Versagen, passt sich ihm an, entrinnt niemals seinen Gesetzen, weiß, dass er die Tüchtigen belohnt, baut die Demokratie nach seinen Wünschen um.
Der Markt. Kein Ding, stattdessen eine Wesenheit. Die uns Konformität abverlangt, auch in der parlamentarischen Mitbestimmung, wie es Angela Merkel 2011 forderte. Man solle IHN respektieren und nicht vergessen, dass er sensibel sei: »Wir müssen die Märkte überzeugen.«
»Wie machen Markt und Staat weiter in der Coronakrise?«, fragt die Tagesschau. »So robust geht der Immobilienmarkt durch die Krise«, jubelt das »Manager-Magazin«, der Markt würde das mit den Preisen im Profifußball regeln, glaubt die Lokalpresse, »Der Markt regelt das nicht«, vermutet »ZEIT-online« in Bezug auf Erholung und Konjunktur. Eigentlich müssten wir, also die Menschen, ein bisschen beleidigt sein. Wir kommen gar nicht vor, es sei denn als Handlanger.
Der Glaube nährt Hoffnung. Das gilt nicht nur in der Religion, sondern auch in der Wirtschaft. Wenn etwas in einer Art und Weise überhöht und mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet ist, dass aus dem Konstrukt zur Erklärung von Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten ein vermeintlich lebendiger und mit Verstand ausgestatteter Organismus wird, könnte man von Fundamentalismus reden.
Aber bleiben wir lieber bei dem Begriff »Neoklassik«. Und geben wir nicht jenen die Schuld, die uns reflexartig einfallen, wenn es um Marktwirtschaft geht, denn diesen Begriff findet man bei den Klassikern der politischen Ökonomie des späten 18. und des 19. Jahrhunderts nicht, wie der Ökonom Walter Otto Ötsch seinem Buch »Mythos Markt. Mythos Neoklassik« voranstellt. Nicht Smith, nicht Ricardo, nicht Owen, nicht Marx seien auf die Idee gekommen, »die neue Wirtschaftsordnung, die mit der industriellen Revolution einsetzte und im 19. Jahrhundert von England aus die zivilisierte Welt zu erobern begann, durch Märkte zu charakterisieren«, schrieb der Volkswirt Claus Thomasberger. Erst Ludwig von Mises (1881-1973) und sein Schüler Hayek (österreichische Schule der Nationalökonomie) stellten den Begriff »Markt« ins Zentrum einer ökonomischen Theorie und begründeten das, was wir heute »Marktfundamentalismus« nennen. Ihre Vorgänger(-denker) heißen Wilhelm Neurath und Carl Menger, der als Begründer der österreichischen Schule gilt, allerdings noch von Märkten, nicht von dem Markt redete. »Du sollst keinen Gott neben mir haben« kam erst später und geschah in Abgrenzung zu, vor allem aber in erbittertem Widerstand gegen marxistische und sozialistische Ideen. Als Produkt einer ideologischen Auseinandersetzung.
Der »Markt«, die Marktwirtschaft, wurde gleichgesetzt mit liberaler Ordnung. Von hier bis zur geradezu übermenschlich agierenden Wesenheit, die Eingriffe in ihr Wirken in verschiedensten Formen unter Strafe stellt, war der Schritt nicht mehr allzu groß. Und es scheint eine Petitesse zu sein, dass DER MARKT letztlich Menschen sind und Marktwirtschaft das Ergebnis menschlichen Handelns ist. Aber auf diese Erkenntnis ließe sich jener Fundamentalismus nicht gründen, der davon ausgeht, dass alles vom Markt durchdrungen ist und die Krisen der Gegenwart – des Sozialen, der Umwelt, des Finanzsystems, der internationalen Staatengemeinschaft – nur gelöst werden können, geben wir IHM freie Hand und mischen uns so wenig wie möglich ein. Wobei niemand – auch nicht die Fundamentalisten – etwas dagegen hat, wenn der Staat (dann aber auch eine Wesenheit ohne menschlichen Faktor) in Krisenzeiten den Markt stützt und aufpäppelt, bis ER wieder auf eigenen Füßen steht und zu unser aller Wohl wirken kann.
Und während die einen ihn überhöhen, indem sie menschliches Handeln geradezu zur Fußnote degradieren, schütten die anderen, aus Wut darüber und aus ökonomischer Unkenntnis, das Kind mit dem Bade aus und wollen von Marktwirtschaft nichts wissen.
Für Hayek galt der Markt als objektive Instanz, in Abgrenzung zur Subjektivität menschlichen Wissens und Handelns. Quasi eine Maschine, die verstreute Informationen und individuelles Wissen bündelt und daraus vernünftiges Handeln ableitet. Aus dem Wissen dieser erweiterten Ordnung wiederum könne dann jede und jeder ableiten, was zu tun ist und im besten Fall erfolgreich sein. Misserfolg nährt sich in dieser Lesart aus der Missachtung der Funktionsweise jener dynamischen Maschine Markt.
Krisen sind Katalysatoren. Vorsorglich schrieb das »Handelsblatt« deshalb, es sei kleingeistig, aus der Coronakrise heraus eine grundsätzliche Ökonomiedebatte loszutreten. »Der massive staatliche Eingriff mit einem 1,2-Billionen-Euro-Rettungspaket ist eine Notfallmaßnahme. In Krisenzeiten mit einer massiven Störung der Wirtschaft kommt es auf den Staat als handlungsfähigen Akteur an. Das ist allerdings weder eine neue Erkenntnis noch sonderlich umstritten.«
Das ist allerdings auch schade. Eine grundsätzliche Ökonomiedebatte über die Vorzüge und Defizite einer Marktwirtschaft – bereinigt von Mythisierung und dem ideologischen Ballast der immer wieder behaupteten Dichotomie von Markt- und Planwirtschaft, weil DER MARKT nicht plant, stattdessen immer nur recht hat – wäre gerade in und nach dieser Krise eine sehr nützliche Angelegenheit. Weil wir ja wissen: Das Ende der Geschichte ist nicht erreicht und der Neoliberalismus ist nicht die höchste Form der Vernunft, genauso wenig, wie DER MARKT per se der Hort der Freiheit und des vernünftigen ökonomischen Handelns ist. Wenn schon ein Virus die »transzendente erweiterte Ordnung« (Hayek) Markt so ins Wanken bringt, dass es staatliche Planwirtschaft braucht, die Krise zu bewältigen – wir erinnern uns an 2008, da hieß das Virus nicht Corona, sondern Banken –, dann wäre es doch an der Zeit, den Markt nicht zu verteufeln, aber auf seine wahre Wesenheit zurückzustutzen: menschengemacht und fehlerbehaftet, allerdings mit viel Potenzial ausgestattet.
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