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Wann, wenn nicht jetzt?
Keine Kreuzfahrtschiffe, keine Menschenmassen: Leere ist Venedigs wahrer Luxus
Der Markusplatz ist wie leer gefegt. Ein Dutzend Leute verlieren sich auf der weitläufigen Piazza, als am Abend die Lichter der umgehenden Palazzi angehen. Eine Frau watet durch eine Lache, die der Regen der letzten Tage übrig gelassen hat, und versucht mit ihrer Kamera die Spiegelungen einzufangen. Versunken in ihr Tun bemerkt sie nicht, wie ein Kind seinen Eltern entwischt und mit dem Roller über den Platz saust. Die bunten Lichter an den Rädern gaukeln eine Lebensfreude vor, die sich zuvor nur selten einstellte - zumindest in dieser Szenerie.
Vor dem historischen Gran Caffé Quadri sind zwar Dutzende Tische und Stühle aufgereiht wie Soldaten in einer mittelalterlichen Schlachtordnung. Aber nur drei der Tische sind an diesem Abend besetzt. »So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagt Fernando. Seit 14 Jahren ist er in diesem seit 1775 bestehenden Cafè als Kellner beschäftigt. Seine Gedanken gehen zwar immer wieder in seine Heimat in der Dominikanischen Republik, wo das Coronavirus immer neue Opfer fordert. Aber auch das, was gerade in Venedig passiert, lässt den 31-Jährigen nicht los.
Seinem Ausspruch »So etwas habe ich noch nicht erlebt« begegnet man in diesen Tagen häufig in der Lagunenstadt. Es ist eine Art Begrüßungsformel, gesprochen von allen: vom Linienschifffahrer und dem Müllmann, der Verkäuferin und der Polizistin. Und auch auf Deutsch, Englisch und Französisch fällt der Satz immer wieder. Denn an einen leeren Markusplatz kann sich niemand erinnern. Sogar die Tauben, die sonst aufgeregt flatternde Haufen bildeten, und die Möwen, die mit ihrem Raubvogelblick über den Platz segeln, machen sich rar.
»Viele Vögel haben es nicht überlebt. Sie ernährten sich von dem, was von den Tischen herunterfiel. Aber die Cafés und Restaurants waren wochenlang geschlossen. Kein Mensch war da, kein Tisch war draußen, kein Essen für die Vögel«, sagt Kellner Fernando. Die Vögel, die aber den pandemieverursachten Hunger überstanden haben, sind indes stärker denn je: »Tagsüber sitzen sie auf den Fensterbrettern, warten darauf, dass bedient wird. Wir bringen das Essen deshalb mit Deckeln geschützt zu den Tischen. Aber kaum nehmen wir den Deckel weg, kann es passieren, dass eine Möwe sich den Schinken aus dem Sandwich holt«, beschreibt Fernando das postapokalyptische Geschehen. Viele Teller seien so bereits kaputt gegangen, klagt er.
Die höhere Bruchquote beim Geschirr dürfte nicht der Hauptgrund sein, warum viele andere Restaurants in Venedig noch geschlossen sind. »Ich befürchte, viele Geschäftsleute werden nicht überleben«, prognostiziert Alon Baker. Er betreibt eine jüdische Kunstgalerie im alten Ghetto. Die Galerie hat als eines der wenigen Geschäfte in dem sonst vor Aktivität brodelnden Viertel aufgemacht. Bakers Frau Michal Meron breitet farbenfrohe Zeichnungen aus, die das Leben im Viertel und auf den Kanälen zeigen. Immer wieder spielen auch Katzen eine Rolle. Ihr eigener Kater liegt, sich wohlig räkelnd, auf dem Tisch im Verkaufsraum. »Er ist der Boss hier«, sagt Baker lachend. Und wenn man sich dem Kater widmet, der als Einziger in dem Raum nicht durchgehend eine Maske tragen muss - nur für das Foto nehmen Baker und Meron das Mund-Nasen-Textil ab - gerät die gespenstisch leere Stadt für einen Moment in Vergessenheit.
Natürlich hat diese Leere auch Vorteile. Die Venezianer entdecken auf einmal wieder ihre Stadt. Die größte Menschenansammlung seit Beginn des Lockdowns war bislang keine Touristenschlange, sondern eine Demonstration gegen die Kreuzfahrtschiffe und für einen sanfteren Tourismus. »Die Stadt ist wie früher«, sagt verträumt die Malerin Michal Meron, die seit einigen Jahrzehnten schon in Venedig lebt. Allerdings braucht Venedig auch die Touristen. »99 Prozent der Geschäfte hier leben vom Tourismus«, sagt Ehemann Baker. Seine Galerie gehört zu den 99 Prozent.
Für die meisten Händler sieht er schwarz: »Vielen fehlt das Geld für die Wiedereröffnung ihrer Läden. Die Schulden hast du ja sofort, Miete, Energie, Lohnkosten. Einnahmen aber gab es seit März nicht mehr. Und willst du wieder aufmachen, musst du auch Geld fürs Personal haben.« Und so wirkt es auch trostlos, dass viele Hotels, Restaurants und Läden noch geschlossen sind.
Im Rathaus von Venedig will die Tourismusstadträtin Paula Mar ein Bild des Aufbruchs verbreiten. »Etwa 85 Prozent der Restaurants sind wieder geöffnet«, lässt sie über ihren Sprecher ausrichten. »Seit 23. Mai sind die Strände am Lido offen, seit 13. Mai der Dogenpalast«, nennt sie ein paar weitere Eckpunkte. Auch die Sammlung Guggenheim ist offen, seit dem 2. Juni, und damit eine der ersten kulturellen Institutionen, die sich dem Leben in der »Phase 2« der Pandemie zuwandte.
Für die noch recht spärlich eintreffenden Gäste sind dies die wichtigsten Ziele. Sie können sie völlig ungestört genießen. Platz gibt es genug, Onlinetickets sind verfügbar. Für die, die sich hergewagt haben, meist mit dem eigenen Auto, manche per Mitfahrzentrale, einige wenige mit dem Flieger, ist Venedig gerade ein Traum. Man kann durch die Stadt flanieren. Niemand versperrt den Blick. Wer sich am Dogenpalast satt gesehen und plötzlich Lust auf ein paar lebendige Menschengestalten hat, geht zum Fondamenta Ormesini, der Barmeile am Kanal, auf der auch die Einheimischen den Tag mit einem Aperol Spritz zum für Venedig untypischen Preis von drei Euro ausklingen lassen. Dort tobt das Leben so sehr, dass bei einer Polizeirazzia in den vergangenen Tagen diverse Rationen Marihuana beim lokalen Partyvolk beschlagnahmt wurden.
Dies immerhin ist eine echte Neuigkeit. Wochenlang richteten sich die Kontrollen vor allem gegen Quarantäneübertretungen. »Nur 200 Meter weg vom eigenen Haus durfte man sich entfernen, begleitet höchstens von einer Person aus demselben Haushalt. War man mit jemandem anderem unterwegs, setzte es Strafen«, blickt Petrik, ein Bauarbeiter aus dem Kosovo, der seit mehr als zehn Jahren Venedigs Palazzi sanieren hilft, auf den Lockdown zurück. Er ist froh, dass die Arbeit wieder losgeht. Er kippt Bauschutt auf einen Lastkahn. Während des Lockdowns habe er Angst gehabt, erzählt er. »Man fühlte sich wie eingesperrt. Und man weiß ja auch nicht, wie sich das Virus verhält«, beschreibt er die Unsicherheit.
Während des knapp drei Monate andauernden Lockdowns durften nicht einmal die Gondolieri ihre Fahrzeuge bewegen. »Nur zu Fuß durftest du raus«, sagt Giambattista, einer der Gondolieri an der Station neben der Rialtobrücke. Dort wartet er auf Kunden, vergeblich an diesem Tag. »Aber mir geht es noch besser als meinem Cousin. Der ist eigentlich Kellner in dem Restaurant dort drüben. Aber das Restaurant ist zu«, sagt er. Viel mehr sagt er nicht, verweist für weitere Fragen auf den Gondolieri-Präsidenten Andrea Balbi.
Der meldet sich immerhin aus dem Homeoffice. »480 Gondolieri haben wir in Venedig. Gewöhnlich sind etwa 300 pro Tag unterwegs. Aktuell sind es etwa 100«, sagt er. Während des Lockdowns hätten die meisten von ihnen Soforthilfe von zwei Mal 600 Euro bekommen, erzählt er. Das sei zwar nicht viel, aber mehr, als die meisten anderen Venezianer erhielten. »In den Nachrichten sagen sie immer, dass viele Millionen Euro in die Kurzarbeiterkasse kamen. Bei mir aber ist kein Cent davon angekommen«, erzählt Alessia, Verkäuferin im Café Majer im Jüdischen Viertel. Auch diese Aussage hört man in diesen Tagen oft in Venedig.
Die Hoffnung auf bessere Zeiten geben die Venezianer aber nicht auf. Auch deshalb schickte Andrea Balbi, Präsident der Gondolieri-Vereinigung, seine Mannen drei Tage vor der Wiedereröffnung der Stadt aufs Wasser. »Wir sind mit den ersten Gondeln am 30. Mai heraus. Wir wollten zeigen, dass Venedig lebt, dass es wieder losgeht«, erzählt er. Wegen der Pandemie gibt es auch im Gondelbetrieb Änderungen. »Die Plätze an Bord sind von sechs auf vier reduziert. Alles ist gesäubert, alles ist desinfiziert. Maskenpflicht besteht aber nicht«, sagt Balbi.
Wegen ihrer Arbeit im Freien sind die Gondolieri die einzigen städtischen Angestellten, die keine Masken tragen müssen. Die Mitarbeiter in den Büros tragen Masken, die Polizisten und die Männer der Müllabfuhr, die als Einzige während des Lockdowns dauerhaft auf den Straßen und Kanälen sein durften. Sogar die Fahrer der Vaporetti, der Linienschiffe, müssen Masken tragen. Ihr Fahrplan immerhin ist fast wieder so dicht wie zuvor. Sogar die Nachtlinien fahren. Das ist wiederhergestellte Normalität - mit einem zusätzlichen Hauch von Luxus. Denn musste man vor der Covid-19-Pandemie stets um einen der begehrten Außenplätze im Vaporetto kämpfen, so hat man jetzt große Auswahl.
Nur am Lazzaretto Nuovo machen die Linienschiffe momentan noch nicht halt. Das ist paradox. Denn auf eben dieser Insel wurden im Zuge der mittelalterlichen Pestepidemien Quarantänestationen errichtet. Der Zeitraum von 40 Tagen, italienisch cuarenta, den die Infizierten dort verbleiben mussten, prägte den Begriff Quarantäne. Während des Lockdowns war ausgerechnet auf der alten Quarantäneinsel keine Menschenseele. Ab Juli soll aber auch Lazzaretto Nuovo wieder angefahren werden - und Covid-19-gestählte Besucher können dann wissende Blicke auf die alten Pestzellen werfen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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