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Die Kämpferin
Alicia Kozakiewicz wurde als Kind vergewaltigt und gefoltert. Sie hat überlebt und erhebt heute ihre Stimme gegen Kindesmissbrauch.
Der Konsum von Kinderpornografie hat während der Coronazeit in einigen europäischen Ländern stark zugenommen. Darauf wies kürzlich die EU-Innenkommissarin Ylva Johannson hin. Vor allem durch das Darknet werden solche Fotos und Videos von den Tätern weltweit verbreitet. Auf einen kriminellen Pädophilen fiel die US-Amerikanerin Alicia Kozakiewicz (32) als 13-jähriges Mädchen rein. Nachdem der 38 Jahre alte Mann über Monate ihr Vertrauen gewonnen hatte, entführte er Alicia und vergewaltigte sie vier Tage lang. Seine Verbrechen streamte er live im Internet. Alicia überlebt schwer traumatisiert. Seitdem hat sie den Kampf gegen Kinderpornografie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Das folgende Interview enthält explizite Beschreibungen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder.
Frau Kozakiewicz, Sie waren eines der ersten Kinder der Welt, das im Internet zum Opfer von Pädophilen wurde. Wie kam es dazu?
Als ich 13 Jahre alt war, war ich ein ganz normales, etwas schüchternes Mädchen. Doch in den ersten Chatrooms, die es damals im Internet gab, war ich selbstsicher und habe leicht neue Menschen kennengelernt. Ich fühlte mich dabei absolut sicher. Schließlich stand der Computer im Wohnzimmer meiner Eltern. Ich dachte, sie sind bei mir und können auf mich aufpassen. Weder meine Eltern noch ich noch die allermeisten anderen Menschen hatten damals ein Bewusstsein für die Gefahren im Internet.
In einem Chatroom haben Sie damals einen 38 Jahre alten Mann kennengelernt, der sich als 13-Jähriger ausgegeben hat.
Richtig. Wir haben über Monate gechattet. Am 1. Januar 2002 wollten wir uns erstmals persönlich treffen. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, der mein Leben für immer verändern sollte. Ich saß mit meiner Familie in unserem Haus in Pittsburgh beim Neujahrsdinner. Jeder, der uns so gesehen hätte, hätte uns für die perfekte, glückliche Familie gehalten. Dann log ich meine Eltern an. Ich sagte, dass ich Bauschmerzen hätte, und bat auf mein Zimmer gehen zu dürfen. Stattdessen schlich ich mich aus dem Haus. Dort hatte ich mich um 19 Uhr mit meinem »Freund« aus dem Chatroom verabredet. Draußen war es ganz still. Eine innere Stimme sagte mir: »Alicia, geh zurück! Du machst einen Fehler.« Dann hörte ich eine andere Stimme, die meinen Namen rief. Es war nicht die Stimme eines 13-jährigen Jungen, es war die Stimme eines Mannes. Diese schreckliche Stimme höre ich heute immer noch.
Was passierte dann?
Er packte mich, zerrte mich in sein Auto und fuhr los. Er drückte meine Hand so fest, dass ich dachte, er würde sie mir brechen. Er sagte, dass er mich fesseln und in den Kofferraum stecken würde, wenn ich schreie. Ich schrie nicht. Ich schaltete auf Überlebensmodus, dachte nur noch: Überlebe! Überlebe! Überlebe! Ich wollte nicht in den Kofferraum. Wer im Kofferraum landet, kommt da nicht lebend wieder raus. Das wusste ich aus dem Fernsehen. Er war ein großer Mann, ich war ein kleines Mädchen. Ich wusste, dass ich nicht gegen ihn kämpfen konnte. Ich wusste, dass ich keine Kontrolle mehr über mein Leben hatte. Ich weinte, und er fuhr. Ungefähr fünf Stunden.
Wohin brachte er sie?
Schließlich hielt das Auto, und er zerrte mich in den Keller seines Hauses. Es war stockfinster. Dann schaltete er das Licht an. An der Wand hingen jede Menge Geräte. Heute weiß ich, dass es Sexspielzeuge waren. Es war ein Verlies. Damals dachte ich nur: Dies ist der Ort, an dem Menschen gefoltert werden. Er setzte mich auf einen Tisch, zwang mich, ihm in die Augen zu gucken, und sagte: »Was jetzt passieren wird, wird sehr wehtun. Es ist okay, wenn Du weinst.«
Was tat er Ihnen an?
Er legte mir ein Hundehalsband an, zog mich aus, nahm mir meine Identität, entmenschlichte mich - und vergewaltigte mich das erste Mal. In den nächsten vier Tagen hat er mich immer wieder gefoltert und vergewaltigt. Immer wieder! Ich weiß nicht mehr, wie oft. Als ich mich gewehrt habe, hat er mir die Nase gebrochen. Außerdem hat er mir nichts zu essen gegeben.
Hat er Ihren Lebenswillen gebrochen?
Nein! Ich wollte überleben. So lange wie möglich. Aber mir war klar, dass er mich schließlich umbringen würde. Nachdem, was er mir angetan hatte, hatte er keine andere Option. Und ich wusste, dass es kein angenehmer Tod werden würde, denn es bereitete ihm Lust, mich zu foltern.
Wie haben Sie ihre Befreiung erlebt?
An meinem letzten Tag in Gefangenschaft hat mein Entführer mich in seinem Schlafzimmer im ersten Stock an den Boden gekettet und verließ das Haus. Plötzlich hörte ich, dass die Tür im Erdgeschoss mit großem Krach aufging. Ich dachte: Jetzt er ist gekommen, um mich zu töten. Ich rollte mich unter das Bett, um mich zu verstecken. Dann hörte ich eine laute Stimme: »Da drüben bewegt sich was!« Dann rief die Stimme: »Rauskommen! Hände über den Kopf!« Nackt kroch in unter dem Bett hervor und starrte in den Lauf einer Pistole. Ich dachte: Jetzt sterbe ich. Das war’s! Aber dann drehte der Mann sich um, und ich sah, dass auf dem Rücken seiner Jacke in großen Buchstaben FBI stand. Dann stürmten viele Polizisten ins Zimmer. Sie gaben mir etwas, um mich zu bedecken, sie befreiten mich und retteten mein Leben!
Wie hatte das FBI sie gefunden?
Während der Entführer mich folterte und vergewaltige, streamte er live, was er mir antat. Einer der Zuschauer erkannte mich. Er hatte mich auf einem Vermisstenplakat gesehen. Aus Angst, dass er man ihm auf die Schliche kommen würde, rief er das FBI an. Über die IP-Adresse hat das FBI schließlich das Haus gefunden, in dem ich gefangen gehalten wurde.
Im Rahmen der Ermittlungen mussten Sie sich Ausschnitte des Videos Ihrer eigenen Vergewaltigungen anschauen, um sich zu identifizieren ...
Ja. Missbraucht und gefoltert zu werden, ist das eine. Aber das Ganze danach noch mal durch die Augen des Täters zu sehen, ist etwas anderes. Zu wissen, dass die schlimmste Zeit deines Lebens anderen, Lust bereitet hat, ist entwürdigender, als man mit Worten sagen kann. Es ekelt mich an, dass es heute noch immer Menschen gibt, die diese Videos sehen wollen. Wenn man mich googelt, schlägt Google oft »Livestream« vor. Die Vorstellung, dass diese Filme vielleicht noch immer irgendwo kursieren, ist für mich unerträglich.
Der Täter wurde zu 19 Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Macht es Ihnen Angst, dass er voraussichtlich in weniger als zwei Jahren freikommt?
Er wird wegen mir 20 Jahre im Gefängnis gesessen haben. Natürlich habe ich Angst davor, dass er sich rächen will. Er weiß nicht, wo ich lebe, aber er weiß, wo meine Eltern leben.
Bereits wenige Monate nach Ihrer Befreiung beschlossen Sie, kein passives Opfer zu sein.
Ja, denn alles, was ich tun wollte, war, andere Kinder vor meinem Schicksal zu bewahren. Darum habe ich mit 14 Jahren das Alicia-Project gegründet, ging in die Schulen, erzählte meine Geschichte und erklärte den Kindern, wie sie sich schützen können. Schon bald habe ich vor dem Kongress und mit dem FBI gesprochen, damit sie mehr tun können, um Kinder vor dieser neuen Form von Kriminalität zu schützen.
Sie haben bereits ein Jahr nach Ihrer Entführung öffentlich über das gesprochen, was Ihnen widerfahren ist. War das nicht unerträglich?
Ja, es fiel mir unglaublich schwer, und es fällt mir immer noch schwer, darüber zu sprechen. Das Verbrechen wird immer Teil meines Lebens sein. Ich habe noch immer Flashbacks. Ich habe akzeptiert, dass dies mein ganzes Leben lang passieren und es mich jedes Mal so überwältigen kann, dass ich weinen muss.
Trotzdem haben Sie sich entschieden, offen über das Erlebte zu sprechen.
Ja, denn es war und ist für mich die beste Therapie. So konnte ich dem, was mir widerfahren war, zumindest einen Sinn geben. Ich habe in den letzten 17 Jahren vor Hunderttausenden Menschen gesprochen, darunter auch viele Eltern, deren Kinder getötet wurden. Sie zu treffen ist am schlimmsten.
Seit vier Jahren sind Sie verheiratet. Wie gehen Sie und Ihr Partner mit Ihrer Vorgeschichte um?
Ich werde oft gefragt: Wie konntest Du Dich, nachdem was Dir angetan wurde, überhaupt verlieben? Wie kannst Du jemandem vertrauen? Wie kannst Du mit einem Mann intim sein? Es hat in der Tat Jahre gedauert, bis ich begriffen habe, dass es bei einer Vergewaltigung um Macht und Kontrolle geht, bei echter Liebe ist das nie der Fall.
Mittlerweile arbeiten Sie als Expertin für Internetsicherheit und Beraterin für Kinderschutz. Gerade jetzt, da viele Kinder wegen der Coronakrise nicht zur Schule gehen können, surfen sie oft unbeaufsichtigt im Internet.
Das ist eine große Gefahr! Viele Kinder haben Ängste, langweilen sich und fühlen sich einsam. Das können Täter ausnutzen.
Welche Kinder sind besonders gefährdet?
Alle Kinder sind gefährdet. Unabhängig vom Geschlecht und sozialem Status der Eltern. Statistisch sind Kinder im Alter zwischen neun und 14 Jahren am stärksten gefährdet. Jedes Kind hat in der Pubertät Probleme mit der Identitätsfindung. Hinzukommt, dass für viele Kinder und Jugendliche die virtuelle Welt mittlerweile eine enorme Bedeutung hat. Likes und Followers in sozialen Netzwerken sind ihnen extrem wichtig, davon hängt ihr Selbstbewusstsein ab. Und um viele Follower zu haben, muss man oft schockieren. Viele Kinder und Jugendliche geben deshalb mehr von sich preis oder zeigen mehr, als sie eigentlich wollen.
Wie finden die Täter im Internet ihre Opfer?
Kinder und Jugendliche sind impulsiv und können die Risiken ihres Handelns oft nicht gut einschätzen. Alle Kinder machen Fehler. Das machen die Täter sich zunutze. Sie suchen gezielt nach verwundbaren Kindern - und jedes Kind ist verwundbar. Sie haben Probleme mit ihren Eltern oder ihren Freunden. Sie finden sich nicht schön oder haben Schwierigkeiten in der Schule, es mangelt ihnen an Selbstbewusstsein. Geübte Manipulatoren finden schnell diese verwundbaren Stellen. Sie hören zu, bestätigen die Kinder in dem, was sie denken, sagen, was sie hören wollen, schenken ihnen ihre Zeit, geben vermeintlich gute Ratschläge und den Eindruck, dass sie der einzige Mensch der Welt sind, der immer und uneingeschränkt für die Halt und Anerkennung suchenden Kinder da ist. Sie spenden Trost und versuchen, einen immer größeren Keil zwischen ihre Opfer und deren Familien und Freunde zu treiben. Das ist nichts anderes als Gehirnwäsche, und es kann die Persönlichkeit eines Kindes in kurzer Zeit total verändern.
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