Schreiben hält sich nicht an Regeln
Olivier-Salate und Ausländerbehörde: Marina Lioubaskina dokumentiert den Diaspora-Alltag in Berlin
Es ist so eine Sache mit der Darstellung des weiblichen Körpers. Entweder wird er sexualisiert und zum Objekt gemacht, oder er wird abgewertet und mit Ekel besetzt, weil er nicht einem Idealbild entspricht. Ein lockerer, wertschätzender und selbstbestimmter Umgang damit ist in der Literatur immer noch eine Ausnahme. Umso schöner ist es, beim Lesen von »Alice-Soliton« einer ungewöhnlich direkten Körperlichkeit zu begegnen. Der neue Roman von Marina Lioubaskina ist kein Buch über den Körper, aber eines, das ihn nicht verleugnet. Und das ist sehr erfrischend.
Lioubaskina wurde 1960 in Usbekistan geboren, studierte Kunst in St. Petersburg und Kaliningrad und lebt seit über zwanzig Jahren in Berlin. Der weibliche Körper ist auch ein wichtiger Gegenstand ihrer künstlerischen Arbeiten, die international ausgestellt werden. Viele ihrer Gemälde zeigen Frauen mit schönen dicken Körpern. Eine Fotoserie besteht beispielsweise aus erotischen Aufnahmen von gespreizten Frauenbeinen. Manche sind nackt, andere mit Hosen oder Strumpfhosen bekleidet. Man sieht Speck, Falten und Unperfektes - Normales eben.
In ihrem ersten Buch, »Marinotschka, du bist so zärtlich«, das 2015 auf Deutsch erschien, thematisierte Lioubaskina die weibliche Lust. Die kommt in ihrem neuen Buch »Alice-Soliton« zwar auch vor, steht aber nicht im Zentrum. Der Roman begleitet Alice, die einige biografische Ähnlichkeiten mit der Autorin aufweist, zweihundert Tage lang in ihrem Leben, ihren Gedanken und Träumen. Alice liebt den Genuss und die Kunst. Und sie liebt es, sich Geschichten und Szenarien auszudenken. Was dabei herauskommt, ist meistens unterhaltsam und manchmal auch befremdlich.
Gleich am Anfang des Romans wird ein merkwürdiger Traum geschildert: Ein Mann, der sich den eigenen Penis abbeißt, wird von der Protagonistin am Strand beobachtet. Anschließend brät sie sich seine Eier in der Pfanne und verspeist sie. So eklig das klingt - das Kapitel ist ein beeindruckendes Stück Prosa. Und zum Glück geht es nur selten so gewaltsam zu.
Es ist faszinierend, dass man bei diesem Buch nie weiß, was einen auf der nächsten Seite erwartet. Es können Schilderungen des Alltagslebens sein, Erinnerungen an die Kindheit in Usbekistan, Schimpfen über die Ausländerbehörde - oder wilde Assoziationsketten, verstörende Träume und Pläne für Filmdrehbücher, die niemand verfilmen würde, weil unsichtbare Charaktere darin vorkommen.
Lioubaskinas Schreiben hält sich nicht an Regeln. Es ist ungeschminkt und direkt und baut sich gleichzeitig poetische Räume, die es ermöglichen, die Realität weiterzuspinnen und damit zu spielen. Der Ton ist meist heiter, aber Ernstes und Bedrückendes wird nicht ausgelassen. Besonders berührend ist es zu lesen, wie Alice ihre kranke Mutter illegal über Finnland nach Deutschland schleust, denn »in einem Altersheim in Russland zu wohnen, das wünscht man keinem«.
Der große russische Autor Vladimir Sorokin lobte die Freiheit, Ironie und Authentizität von Lioubaskinas erstem Buch. Das sind auch die Stärken von »Alice-Soliton«. Doch nicht alle Abschnitte sind gleich gut gelungen. Manche Stellen sind brillant, andere eher langweilig, weil sie sich im Ton sehr ähneln und nicht mehr viel Neues erzählen. Stellenweise wirkt der Text wie eine Schreibübung, bei der man einfach alles festhält, was einem in den Sinn kommt. Und das ist nicht immer interessant für das Publikum. Auch die Wortspielereien und Einsprengsel von Fäkalhumor wirken teilweise etwas bemüht. Doch das kann auch daran liegen, dass sich so etwas schwer übersetzen lässt.
Sehr gelungen und witzig dagegen ist Lioubaskinas Spiel mit Russland-Klischees. In der wunderbar grotesken Schilderung einer Feier in Alice Wohnung kommen nicht nur einige Größen der russischen Gegenwartsliteratur vor, sondern nicht weniger als 2000 Olivier-Salate. Der russischen Liebe zu Diminutiven wird ebenfalls genüge getan, wenn Alice »Kartöffelchen, Fleischchen, Möhrchen und Nüdelchen« im »Lädchen« holen geht.
Doch in »Alice-Soliton« finden sich auch ernsthaftere Auseinandersetzungen mit Russland und Deutschland. Wenn Alice sich mit einer ebenfalls immigrierten Freundin über das Leben in Berlin unterhält, stellen beide fest, dass sie einige Zeit gebraucht haben, um sich einzugewöhnen. Sie hätten die Gelassenheit der Berliner als Gleichgültigkeit und Kälte missverstanden, »aber dann wurde mir klar - sie lassen dir deine Freiheit! […] Ich habe hier gelernt selbstständig zu sein.« Wenn das kein Kompliment ist!
»Alice-Soliton« ist kein Meisterwerk, aber ein Buch, das angenehm aus der Masse heraussticht. Die Perspektive einer älteren Frau mit Migrationshintergrund, die einfach so schreibt, wie es ihr gerade in den Sinn kommt, und sich dabei nicht scheut, von Sex und Körpern zu erzählen, kommt im Literaturbetrieb nicht häufig vor. Allein dafür lohnt sich die Lektüre.
Marina Lioubaskina: Alice-Soliton. A. d. Russ. v. Annette Merbach. Konkursbuch, 289 S., geb., 18 €.
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