Mehr Mitbestimmung mehr Markt, mehr Konflikt

Zur Geschichte der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung und deren ambivalenter Bilanz.

  • Paul Michel
  • Lesedauer: 4 Min.

Jugoslawien war neben Griechenland das einzige Land, dem es gelungen war, die Nazibesatzer und ihre Hilfstruppen aus eigener Kraft zu besiegen. Obwohl die Führer der jugoslawischen Kommunistischen Partei (KP) zur Sowjetunion als dem großen Vorbild aufblickten, waren sie entschlossen, selbst darüber zu entscheiden, was sie tun und lassen wollten. Sie waren zwar stalinistisch geprägt, aber nicht stalinhörig.

Die 1945 neu geschaffene Volksrepublik Jugoslawien war sehr stark zentralistisch strukturiert. Die weitgehend verstaatlichte Volkswirtschaft wurde von zentralen Planungsbehörden in Belgrad geleitet, im Staatsapparat regierten die Ministerien in Belgrad über die Provinzverwaltungen bis in die »Volkskomitees« vor Ort durch. Der Parteiapparat der KP sorgte dafür, dass die zentralen Vorgaben draußen in der Fläche durchgesetzt wurden.

Am 28. Juni 1948 dann erfuhr die Welt durch eine kurze Zeitungsmeldung vom Rauswurf Jugoslawiens aus der Kominform, dem überstaatlichen Informationsbüro der Kommunistischen und Arbeiterparteien. Die internationale Öffentlichkeit reagierte darauf mit Ungläubigkeit. Viele im Westen hielten den Ausschluss Jugoslawiens für einen Bluff. Denn Tito galt im Westen bis dahin als Musterschüler Stalins.

Tito und die anderen Führungsmitglieder wollten zunächst den Streit nicht ideologisch zuspitzen. Es dauerte bis zum Januar-Plenum von 1949 bis die jugoslawische Führung erstmals eine Kritik der Politik der UdSSR vornahm. Im Frühjahr 1949, nach einem Treffen des Politbüros in Split, begann die KP-Führung, nach neuen Wegen zu suchen und erste Umrisse dessen, was später als Arbeiterselbstverwaltung firmieren sollte, zu entwickeln. Sie griff den alten Marx’schen Gedanken wieder auf, wonach im Sozialismus der Staat »absterben« solle.

Mit dem »Gesetz über die Verwaltung der staatlichen Wirtschaftsunternehmen« vom 27. Juni 1950 wurde die Arbeiterselbstverwaltung institutionalisiert. In über 6000 Betrieben wurden von den Belegschaften Arbeiterräte gewählt, die, abhängig von der Größe des Betriebs, zwischen 15 und 120 Mitglieder hatten.

Der Arbeiterrat wurde das höchste Kontrollorgan im Betrieb. Er entschied über Produktion, Geschäftsgebaren und Organisation des Unternehmens. Ihm oblag die Genehmigung des Wirtschaftsplans. Damit bestimmte er über alle die Produktion betreffenden Fragen, wie die Erstellung des Jahresplans und der Monatspläne, aber auch über Zukauf oder Verkauf von Produktionsteilen.

Der Verwaltungsausschuss des Unternehmens, der zwischen drei und siebzehn Mitglieder umfasste, wurde vom Arbeiterrat gewählt. Der Verwaltungsausschuss erledigte das Alltagsgeschäft im Betrieb. Er erstellte die Vorlagen für den Wirtschaftsplan und die Jahresschlussbilanz, die dann dem Arbeiterrat zur Zustimmung vorgelegt wurden. Er kümmerte sich um Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen und allgemein die Abläufe im Betrieb. Der Ausschuss, nicht der Direktor, besetzte die Stellen der leitenden Angestellten.

Jeder Betrieb hatte einen Direktor. Zunächst wurden Direktoren noch von oben ernannt. Seit 1953 mussten Direktorenposten öffentlich ausgeschrieben werden. Die Auswahl erfolgte durch eine Kommission, in der der Arbeiterrat, der örtliche Produzentenrat und die Industriekammer der Branche vertreten waren. Der Direktor war der »oberste Angestellte« des Betriebs. Er leitete die täglichen Geschäfte und vertrat das Unternehmen im Wirtschaftsverkehr mit anderen Unternehmen. Außerdem hatte er darüber zu wachen, dass alles gesetzeskonform ablief. Für den Direktorposten wurden sehr oft »politische Persönlichkeiten« berufen, die im Befreiungskrieg in der Partisanenarmee Führungspositionen begleitet oder sonstige Verdienste erworben hatten. Diese Leute hatten oft wenig oder gar keine wirtschaftliche und/oder technische Kompetenz.

Die Umsetzung des Konzepts in die betriebliche Praxis war von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich. Bei einigen lief es gut, bei anderen weniger gut. An wichtigen Managemententscheidungen waren die Arbeiterräte nicht oder nur oberflächlich beteiligt. Oft bestimmten Vorarbeiter, Techniker und Büroangestellte in recht autokratischer Form, wo es lang geht. Als hinderlich erwies sich das oft recht niedrige Qualifikations- und Bildungsniveau bei vielen Arbeitern. Arbeiterselbstverwaltung scheint dort, wo es wie in Slowenien eine ausreichend qualifizierte Arbeiterschaft gab, besser funktioniert zu haben als in den unterentwickelten südlichen Landesteilen. Frauen spielten in den Gremien so gut wie keine Rolle. Wenn die jugoslawischen Kommunisten auch am politischen Monopol der KP festhielten, wurden in den 1950er Jahren auf betrieblicher und kommunaler Ebene erstaunliche Dinge in Sachen direkter Demokratie ausprobiert. Unter dem Strich bleibt trotz aller Kritik festzuhalten: Die Belegschaften in den Ostblockländern oder in den kapitalistischen Industriegesellschaften in Westeuropa konnten von den Mitwirkungs- und Autonomierechten, die ihre Kollegen in Jugoslawien den 1950er Jahren in Anspruch nahmen, nur träumen.

Das System der Arbeiterselbstverwaltung hatte neben dieser emanzipatorischen auch eine destruktive Seele. Sie setzte von Beginn an Destruktivkräfte frei: die Kräfte des Marktes. Im Verlauf der 1950er Jahre bekamen Marktmechanismen in der jugoslawischen Volkswirtschaft immer größeres Gewicht, mit den Reformen Anfang der 1960er Jahre wurde der Markt zum Taktgeber. Der Markt förderte nicht die solidarische Kooperation, sondern die Konkurrenz von Einzelbetrieben und das Gegeneinander der Teilrepubliken. Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Jugoslawien wurde dadurch immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. Wer den Niedergang des jugoslawischen Modells und das, was sich in der Niedergangsphase Jugoslawiens an hässlichen und grausamen nationalistischen Exzessen zutrug, verstehen will, sollte hier ansetzen.

Paul Michel ist Herausgeber eines soeben im Neuen ISP-Verlag erschienenen Buches mit dem Titel »Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung - Licht und Schatten«, 145 S., br., 15,30 €.

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