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Berechtigter Verdacht oder bloße Taktik
Verteidiger im Lübcke-Prozess lehnen Richter ab. Was steckt dahinter?
57 Befangenheitsanträge wurden im fünf Jahre währenden NSU-Prozess in München gestellt, die 202 Richterablehnungen enthalten. Vier sind es bisher im Prozess um den Mord an Walter Lübcke und den versuchten Mord an Ahmad E. vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main, der in der vergangenen Woche begonnen hat. Am Dienstag wird die Kammer voraussichtlich mitteilen, ob den Anträgen stattgegeben wird. Wenn ja, müsste ein neuer Vorsitzender Richter eingesetzt werden und die Gerichtsverhandlung ab dem Zeitpunkt des stattgegebenen Antrags wiederholt werden.
Die Hauptverhandlung im Fall Lübcke begann am 16. Juni. Ihr Beginn ähnelte stark dem Auftakt des Prozesses gegen NSU-Mitglied Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte: Die Verteidiger erklärten direkt am ersten Verhandlungstag im NSU-Prozess 2015, den Richter wegen »Besorgnis der Befangenheit« abzulehnen, wie es korrekt heißt. Am zweiten Verhandlungstag wird die eingeschränkte Sicht der Presse beanstandet. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen Richter und Verteidigern. Werkzeuge aus dem Standardrepertoire einer Strafverteidigung - jedenfalls in großen Prozessen vor Land- oder Oberlandesgerichten. In der Gesamtheit aller Gerichtsverfahren sind Befangenheitsanträge eher selten. Genaue Zahlen gibt es nicht, Schätzungen gehen davon aus, dass in lediglich fünf Prozent aller Verfahren überhaupt ein solcher Antrag gestellt wird und von diesen etwa ein Prozent durchgeht.
In Amtsgerichten kommen sie praktisch nie vor, in Landgerichten etwas häufiger, erst recht am Oberlandesgericht, wo besonders schwere Fälle verhandelt werden. Eine Richterin berichtet auf Anfrage des »nd«, nur drei Tage nach ihrer Ernennung an einem Landgericht habe sie einen Befangenheitsantrag gegen die ganze Kammer »gesammelt«. Eine Rechtsanwältin, die vor allem an Amts- und Landesgerichten tätig ist, erzählt, in zwölf Jahren zehn Befangenheitsanträge gestellt zu haben, von denen neun stattgegeben wurde.
Ein Ablehnungsgesuch kann ein Verteidiger für seinen Mandanten abgeben, wenn er der Ansicht ist, dass der Richter ihm gegenüber voreingenommen sein könnte. Im NSU-Verfahren und auch im Lübcke-Prozess beispielsweise erklärten die Verteidiger unter anderem, die vermeintliche »Vorverurteilung« durch die Presse beeinflusse den Vorsitzenden Richter negativ.
Eine Befangenheitserklärung kann aber auch als Verzögerungstaktik eingesetzt werden, als Möglichkeit, gleich zu Beginn inhaltliche Einlassungen zu machen, oder kann Teil eines Machtspiels sein. In einem Aufsatz über »Maßnahmen des Verteidigers in der Hauptverhandlung« heißt es, die Psychologie dürfe in einem Verfahren nicht unterschätzt werden.
Zur Verzögerung können Befangenheitsanträge zwar immer noch gestellt werden, aber seit kurzem nur noch sehr eingeschränkt: Am 13. Dezember 2019 trat eine reformierte Strafprozessordnung in Kraft. Seitdem muss eine Gerichtsverhandlung nicht mehr sofort unterbrochen werden, wenn ein Befangenheitsantrag gestellt wird. Das soll Verfahren straffen, Anwälte halten eher die Einschränkung ihrer Rechte für den Grund der Änderung. Die Reform geht unter anderem auf den NSU-Prozess zurück, da auch dieser bereits am ersten Verhandlungstag unterbrochen werden musste. Auch die nächsten beiden Verhandlungstage mussten ausfallen, bis - negativ - über die Anträge entschieden war. 34 Ablehnungsgesuche sind allerdings wenig im Vergleich mit einem Verfahren gegen Neonazis in Koblenz, das sich fast fünf Jahre lang hinzog, weil mehr als 500 - erfolglose - Befangenheitsanträge gestellt wurden. Das Verfahren musste dann abgebrochen werden, weil der Vorsitzende Richter in Pension ging.
Das dürfte im Lübcke-Prozess nun nicht passieren. Trotz vier Befangenheitsanträgen in den ersten beiden Verhandlungstagen wurde jeweils weiterverhandelt. »Das ist das Gesetz«, sagte Richter Thomas Sagebiel auf die von den Verteidigern daraufhin geäußerte Kritik am Vorgehen. Und auch die geplante Pensionierung von Sagebiel im kommenden Jahr ist eingeplant: Am Verfahren nehmen zwei Ergänzungsrichter teil, die in dem Fall, dass der Prozess über die Pensionierung hinaus geht, einspringen sollen.
Alle Artikel zum Lübcke-Prozess unter: dasnd.de/luebcke
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