»Organisierung muss unsere Perspektive sein«

Kofi Shakur über rassistische Polizeigewalt, institutionelle Diskriminierung und die Black-Lives-Matter-Bewegung in Deutschland

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 7 Min.

Herr Shakur, in verschiedenen Staaten werden derzeit die Statuen von Rassisten zerstört. Welche Statuen würden Sie gerne in Deutschland niederreißen?

Bismarck, Wissmann, Schimmelmann. Alle, die mit dem Kolonialismus verbunden waren und von ihm profitiert haben. Ebenso wichtig ist die Umbenennung kolonialer Straßennamen, für die seit langer Zeit gekämpft wird. Und auch über Edeka, die ehemalige »Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler«, sollte eine Debatte geführt werden. Ein Vorschlag: Wir könnten ja damit anfangen, den Afrikabeauftragen Günter Nooke von seinem Posten zu holen.

Zur Person

Kofi Shakur studiert Sozialwissenschaften und lebt in Berlin. Mit dem Aktivisten und Autor sprach Sebastian Bähr.

Nach den USA gehen nun auch in Deutschland Tausende gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straßen. Wie bewerten Sie die hiesigen Proteste?

Die gemeinsame Erfahrung auf der Straße ist schon sehr wertvoll. Was in Deutschland jedoch fehlt, ist eine wirklich umfassende Mobilisierung der Gewerkschaften bei besagten Themen. Die Wirtschaft profitiert von der billigen Arbeit von Migrant*innen und die Gewerkschaften müssen endlich dafür kämpfen, die Lebensbedingungen aller Lohnabhängigen zu verbessern. Das schließt gleichen Lohn für gleiche Arbeit mit ein, aber genau so die Freiheit von Schikane durch Polizei oder rassistische Behörden. Der vorherrschende Charakter vieler Demonstrationen war zudem nicht besonders radikal. Bei ihnen bot sich dadurch die Möglichkeit, abstrakt Rassismus zu verurteilen, ohne daraus eine konkrete politische Praxis abzuleiten.

Viele Politiker*innen erklärten sich mit den Protesten solidarisch, lehnten aber eine strukturelle Kritik an rassistischer Polizeigewalt ab. Wie groß ist das Problem in Deutschland?

Seit 15 Jahren kämpfen wir nun für die Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh, aber jetzt stellen sich ernsthaft Politiker*innen vor Kameras und behaupten, es gäbe in Deutschland kein Problem mit Rassismus und auch keinen strukturellen Rassismus innerhalb der Sicherheitsbehörden. Trotz aller Verstrickungen mit dem NSU, trotz all der aufgeflogenen rechten Netzwerke, trotz der wiederholten Weitergabe von vertraulichen Dokumenten, von Namen und Adressen an organisierte Rechtsextreme. Doch abseits solcher Skandale ist der Normalzustand das zentrale Problem: Die Polizei setzt täglich die Gewalt des Staates durch, ob durch Racial Profiling, Abschiebungen oder Zwangsräumungen. Diese Gewalt richtet sich dabei besonders häufig gegen arme und nichtweiße Menschen. Und da diese Kategorien sich statistisch in einer kapitalistischen Gesellschaft verhältnismäßig oft überschneiden, trifft es bestimmte Gruppen auch besonders oft und hart. In Deutschland fällt es bisher der Mehrheitsgesellschaft jedoch leicht, über diese rassistische Gewalt, nicht nur vonseiten der Polizei, hinwegzusehen.

Deutsche Institutionen vertuschen dazu mitunter die eigenen Verstrickungen in rassistische Gewalt, sei es beim Verfassungsschutz oder beim mutmaßlichen Mord an Oury Jalloh. Was folgt daraus?

Das bedeutet, dass wir uns nicht auf diesen Staat verlassen können. Es reicht nicht aus, ihn um etwas zu bitten. Wir müssen ihn zwingen, unsere Forderungen umzusetzen. Für den 8. Mai wurde nach dem rassistischen Terroranschlag von Hanau ein Tag des Zorns ausgerufen, auch die Idee eines migrantischen Generalstreiks wurde verbreitet. Durch solch eine Aktion hätten wir die Möglichkeit, die Wirtschaft lahmzulegen. Nicht um unseren Wert für dieses Land zu beweisen, sondern damit alle verstehen, dass die eigentliche Macht nicht bei einer Regierung liegt.

Andere plädieren dagegen vor allem für Reformen. Berlin hat jüngst ein Anti-Diskriminierungsgesetz beschlossen, dazu soll ein unabhängiger Polizeibeauftragter eingeführt werden. Was halten Sie davon?

Ich habe sehr wenig Erwartungen und keine Hoffnung, dass sich durch diese Reformen wirklich etwas verbessert. Läge dem Staat etwas am Antirassismus, müsste er sich selbst abschaffen. Als gesamtkapitalistisches Gebilde ist er auf Rassismus zum Funktionieren angewiesen. Keine Frage: Durch die aktuellen starken Proteste werden wir Zugeständnisse bekommen. Aber warum sollten wir uns jetzt noch mit Beschwichtigungen wie Reformen oder Budgetkürzungen für die Polizei zufrieden geben? Sobald die herrschende Ordnung grundlegend infrage gestellt wird, wird sie jedes Angebot machen, von dem sie denkt, dass es sie rettet.

Zurück zu den Protesten. Nehmen Sie derzeit eine verstärkte Politisierung und Organisierungsbemühungen unter Afro-Deutschen und anderen nichtweißen Menschen in Deutschland wahr?

Das Bedürfnis danach wächst seit ein paar Jahren, es gab auch immer wieder einzelne Projekte. Es ist aber oft nicht einfach, nur auf der Grundlage gemeinsamer Rassismuserfahrungen, die alleine schon sehr unterschiedlich sein können, eine politische Organisation aufzubauen. Für die Entwicklung von politischem Bewusstsein ist es aber von ungeheurer Bedeutung, solche Räume für Austausch und Diskussionen zu schaffen. Oft verlassen schwarze Menschen und PoC linke Gruppen, weil sie nicht das Gefühl haben, ernst genommen zu werden. In einem Raum, der zumindest ein Machtverhältnis reduziert, können andere Diskussionen geführt und bestimmte Dominanzmechanismen ausgehebelt werden. Es geht aber darum, dieses Selbstbewusstsein dafür zu nutzen, politische Kämpfe zu führen. Und warum soll man sich bei diesen beschränken, nur über Rassismus oder nur mit von Rassismus Betroffenen zu sprechen? Wir haben viel mehr zu bieten.

Wie können sich weiße Aktivist*innen an diesen antirassistischen Kämpfen beteiligen? Zuletzt wurde unter anderem gefordert, dass sie »Platz machen und mehr zuhören« sollen.

Ich halte es für sehr gefährlich, einfach zu sagen, die »Weißen sollen Platz machen und zuhören«. Für bestimmte Situationen kann das sicher mal Sinn machen, aber das kann doch nicht alles sein. Dazu verstärkt solch eine Forderung auch diese Dynamik, dass von Rassismus betroffene Menschen sich eben auch immer mit Rassismus beschäftigen müssen. Es gibt genug Analysen, mit deren Hilfe man die Funktionsweise von Rassismus und Polizeigewalt verstehen kann, von Angela Davis bis Frantz Fanon. Dieses Wissen müssen sich alle aneignen und dabei die Erfahrungen und Erlebnisse von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, besonders berücksichtigen. Aber nicht alles, was schwarze Menschen dazu sagen, ist deswegen automatisch richtig. Es gibt auch jene, die sagen, dass es in Deutschland keinen Rassismus gibt oder kein grundsätzliches Problem mit der Polizei haben. Im Idealfall sollten so etwas auch weiße Linke kritisieren können. Gleichzeitig dürfen sie aber nicht paternalistisch handeln.

Was meinen Sie damit?

Wofür es keinen Platz gibt, sind weiße Menschen, die so ignorant und unsensibel sind, dass sie etwas rufen wie »Ich kann nicht atmen«, obwohl sie niemals in eine Situation wie George Floyd oder Eric Garner kommen würden. Ebenfalls ist bei weißen Liberalen ein naiver Pazifismus sehr beliebt, ausgedrückt etwa durch die Parole »Hände hoch, schießt nicht«. Wenn wie Anfang Juni vor allem migrantische Jugendliche in Deutschland von der Polizei angegriffen und festgenommen werden, müssen weiße solidarische Menschen intervenieren. Es geht aber auch über die Staatsgrenzen hinaus: Deutschland ist vorne mit dabei, auf dem afrikanischen Kontinent Fluchtursachen zu schaffen, Geflüchtete an den Grenzen zu jagen und abhängige ärmere Länder mit sogenannter Entwicklungshilfe zu erpressen. Die dafür verantwortlichen Unternehmen, die Bundeswehr und auch die neoliberalen politischen Stiftungen müssen sich aus Afrika zurückziehen. Auch dafür müssen weiße Linke kämpfen.

Marie Hecht stellt in einem Audiobeitrag für ndAktuell die Frage, was Black Lives Matter in Deutschland bedeutet.

Auf den BLM-Protesten wurde ebenfalls oft gefordert, dass weiße Protestierende ihre Privilegien reflektieren sollen. Inwiefern steht diese Forderungen im Zusammenhang mit der Forderung nach einem revolutionären Klassenkampf, wie ihn etwa die Black Panther Party in den USA eingefordert hat?

Es handelt sich dabei um zwei grundsätzlich verschiedene strategische Ausgangspunkte. Auf der einen Seite gibt es die Vorstellung, durch Veränderung des individuellen Verhaltens die Gesellschaft zu verändern. Auf der anderen Seite existiert die Vorstellung, eine komplett neue Gesellschaft zu erschaffen. Die beste Analyse und das beste Konzept zum Aufbau einer revolutionären Organisation sind jedoch nutzlos, wenn sich Gruppen immer wieder so destruktiv und unsolidarisch verhalten, dass sie niemanden organisieren können. Das Kapital hat wiederum keine Angst vor Menschen, die einzig ihre Privilegien reflektieren. Die Organisierung von Menschen muss unsere Perspektive sein, sonst wird »Privilegien reflektieren« nur ein weiteres Konzept zur Selbstoptimierung.

Wie kann solch eine gemeinsame Organisierung konkret aussehen?

Alle Revolutionär*innen müssen permanent an sich arbeiten und sich gegenseitig kritisieren, auch bei diskriminierendem Verhalten. Für solch eine Kritik muss aber ein kollektiver Rahmen existieren. Politische Arbeit ist keine individuelle Beschäftigung. Die Frage lautet doch: Wie können wir besser mit unseren Genoss*innen umgehen, wie können wir politisches Vertrauen zueinander etablieren und wie können wir hierarchische Machtverhältnisse unter uns abbauen? Unser Ziel sollte stets sein, den gemeinsamen Kampf zu stärken.

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