Die liberale Konservative
Personalie
Es ist der erste offizielle Staatsgast seit dem Ausbruch der Coronapandemie, den Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Montagabend empfing. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der estnischen Botschaft besuchte die Präsidentin Kersti Kaljulaid gestern Berlin. Zuvor hatte sie in Sachsen zusammen mit Ministerpräsident Michael Kretschmer einen estnisch-deutschen Batteriehersteller und in Berlin einen estnischen Elektrofahrradhersteller besichtigt. Auch für Kaljulaid ist es die erste Auslandsreise seit mehreren Monaten.
Die 50-jährige Biologin, die fast zehn Jahre beim Europäischen Rechnungshof in Luxemburg tätig war, gilt als weltoffene Vertreterin der digitalen Musterrepublik. Kaljulaid, die sich selbst als »liberale Konservative« sieht, war 2016 bei der Präsidentenwahl eine Kompromisskandidatin aller Parteien - bis auf die rechtsextreme EKRE, mit der sie wiederholt aneinandergeriet. Bei der Vereidigung der neuen rechts-konservativen Regierung im April 2019 trug die Präsidentin demonstrativ einen Pullover mit der Aufschrift »SÕNA ON VABA« (Das Wort ist frei). In einem Interview mit einer US-amerikanischen Zeitschrift bekannte sie, dass sie sich oft für die Partei schäme und sich um das Ansehen Estlands sorge. Im Dezember 2019 musste Kaljulaid abermals in die Bresche springen: Nachdem der EKRE-Chef und estnische Innenminister Mart Helme sich herablassend über die neue finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin geäußert hatte, entschuldigte sie sich telefonisch in Finnland.
Kaljulaid, die in der »Forbes«-Liste auf Platz 78 der mächtigsten Frauen der Welt rangiert, gilt in Einwanderungsfragen oder bei LGBT-Rechten als liberal, was insbesondere in ländlichen Gebieten Estlands für Empörung sorgt. Nach ihrer Wahl fand auch der Fakt Beachtung, dass sie Interviews auf Russisch gab. Obgleich sie wesentlich besser Englisch, Finnisch und Französisch spreche, sei sie gewillt, mit den gut 25 Prozent der Esten, deren Muttersprache Russisch ist, in dieser Sprache zu kommunizieren.
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