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»Unsere Leben zählen nicht«
Im mexikanischen Ciudad Juárez produzierten große Fabriken trotz Corona weiter. Dutzende Beschäftigte starben
Das Livevideo auf Facebook hält auf die Beamten der Gerichtspolizei. Eine Frau mit rauchiger Stimme hinter der Kamera fragt nachdrücklich nach dem Grund ihrer Verhaftung. Matamoros, Mexiko, an einem Montag Anfang Juni. Das Video ist vorerst die letzte der unzähligen Aufnahmen, die die Arbeitsrechtsanwältin Susana Prieto ins Netz stellt. Die renommierte Juristin und Aktivistin informiert fast täglich über die Rechte von Arbeitenden in der Montageindustrie. Dies vor allem in der Industriemetropole Ciudad Juárez und seit Anfang 2019 auch in der Grenzstadt Matamoros.
»Die Festnahme von Susana Prieto zu Coronazeiten ist verheerend«, erklärt Cesario Tarin vom Institut für die Stadt und Menschenrechte, das eine landesweite Eilaktion startete. Die Anwältin sei maßgeblich im Kampf gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen. »Im Ausnahmezustand der Pandemie jedoch geht es um die Prävention von Toten.« Denn die Industriezonen in Nordmexiko haben die meisten Covid-Opfer im Land. Obwohl der mexikanische Präsident schon am 30. März die Schließung aller nicht lebensnotwendigen Unternehmen anordnete. Doch während höhere Angestellte Homeoffice betrieben, lief die Produktion weiter. Viele Maquilas (Billiglohnfabriken) schlossen die Werkstore erst mit großer Verspätung oder gar nicht. »Die Fabriken wurden zu Inkubationsherden von Sars-CoV-2.« Und tragischerweise sei in Städten wie Ciudad Juárez gerade die Industriearbeiterschaft in Gefahr, am Virus zu sterben. Viele Menschen nehmen die Jobs zu Hungerlöhnen an, weil sie darüber wenigstens einen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem haben. »Doch das liegt durch Korruption ausgeblutet am Boden«, so Tarin.
Während Corona-Infektionen relativ gleichmäßig im gesamten Gebiet der 1,4-Millionenstadt verteilt auftreten, sind die Todesfälle im marginalisierten Nordwesten und Südosten anzutreffen. Genau dort, wo die Wohnviertel der Fabrikangestellten liegen. Von über 500 Toten in Ciudad Juárez verstarben nur zwölf Personen in einer Privatklinik. Ausschlaggebend sind auch Wechselwirkungen mit Krankheitsbildern wie Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht. Diese sind in den Armenvierteln der Industriemetropole weit verbreitet, wo zwischen den Fabrikschichten weder Zeit noch Geld für einen gesunden Lebensstil und ausgewogene Ernährung bleibt.
In den Armenvierteln stehen kleinste Reihenhäuser mit ein oder zwei Räumen dicht an dicht. Dünne Bäumchen versuchen, den extremen Temperaturen in der Wüste standzuhalten. Die, die sie gepflanzt haben, hoffen, dass sie ihnen eines Tages Schatten oder im Winter Brennholz schenken können. In den schmalen Vorhöfen braucht zumeist kein Auto Platz, da für die Meisten ein eigenes Gefährt unerschwinglich ist. Täglich jedoch setzen sie die Elektronik für Kleinwagenbesitzer in anderen Ländern zusammen oder nähen Sitzbezüge. Die Wenigsten lehnen sich auf gegen das Leben in Armut trotz Arbeit. Die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg bleibt.
Das Coronavirus hat die Arbeiterschaft in Angst versetzt. »Unsere Leben zählen nicht, wir sind austauschbar«, empört sich eine Arbeiterin. Trotz Mundschutz versucht sie, deutlich in ein Megafon zu sprechen. Sie wird von Kollegen gefilmt. Andere stellen Videos von Streiks in den Fabrikhallen ins Netz. Selten gesehene Bilder, denn Gewerkschaften sind nur vorgeblich vorhanden und jegliche Forderungen nach minimaler Lohnerhöhung oder der Einhaltung der Arbeitsrechte werden im Keim erstickt. Eine Entlassung folgt sofort. »Doch heute geht es um Leben und Tod«, ruft die Frau ins Megafon. »Für die Unternehmen stehen selbst in dieser Ausnahmesituation die Gewinne an erster Stelle.«
Die Proteste sind zaghafter geworden, seit die Arbeitsrechtsanwältin Susana Prieto unter fadenscheiniger Anklage in Untersuchungshaft sitzt. Davor fehlte sie vor keinem Fabriktor, gekleidet in einen dünnen Astronautenanzug. »Denn die Anwältin gehört mit Bluthochdruck zur Corona-Risikogruppe und sollte gerade auf keinen Fall im Gefängnis sein«, konstatiert ihre Pressesprecherin, Alyn Alvidrez. In den ersten Tagen ihrer Festnahme war Prieto psychologischer Folter ausgesetzt, als sie von Matamoros nach Ciudad Victoria verlegt wurde - ohne dass sie darüber vor oder während der vierstündigen Fahrt informiert wurde. »Angesichts der vielen Fälle von in Haft Verschwundener in Mexiko wurden Susana und ihre Familie in Panik versetzt.« Die widerrechtliche Verlegung, so scheint es, sollte die Anwältin von der starken Arbeiterbewegung am Ort ihrer Festnahme isolieren.
Alles begann Ende 2018, als der amtierende Präsident Andrés Manuel López Obrador ein Dekret zur Mindestlohnerhöhung an der Nordgrenze erließ. Das umfasste nicht nur eine ab diesem Datum geltende Lohnerhöhung um 20 Prozent, sondern auch rückwirkend die Auszahlung von Vergütungen über insgesamt 32 000 Pesos; rund 1600 Euro. »Die Arbeiterschaft von Matamoros bat Susana Prieto damals über die sozialen Medien, sie juristisch zu unterstützen. Daraus entstand in Matamoros die Bewegung 20/32«, erzählt Alyn Alvidrez. Auch angesichts der Festnahme Prietos liegt die Hoffnung auf dem Präsidenten. Dieser sprach sich klar dafür aus, dass gegen niemanden falsche Anklage erhoben werden dürfe und dass das Demonstrationsrecht ein Verfassungsrecht sei, denn der Aktivistin wird »Aufwiegelung« vorgeworfen.
López Obrador wies an, ihren Fall von der Vorsitzenden der Nationalen Menschenrechtskommission prüfen zu lassen. Doch das gekachelte Gebäude an einer Hauptverkehrsader von Ciudad Juárez, in dem sich die Anwaltskanzlei Prietos befindet, bleibt vorerst geschlossen. Arbeitende, die mit juristischen Anliegen vorbeikommen, erhaschen nur selten einen der jungen Anwälte und Anwältinnen bei einem schnellen Besuch im durch Eisentüren befestigten Büro. Die vorbeirauschenden Autos sind seit der Lockerung der Quarantänemaßnahmen wieder zahlreicher. Währenddessen erinnern in der knapp 2000 Kilometern entfernten Hauptstadt Mexiko-Stadt riesengroße weiße Lettern mit Susana Prietos Namen auf dem zentralen Platz vorm Präsidentenpalast an ihre ausstehende Freilassung.
Tatsächlich sei es der politische Versuch, die Anwältin und Aktivistin außer Gefecht zu setzen, bestätigt Alvidrez. »Ihre Inhaftierung nimmt Arbeiterinnen und Arbeitern die Möglichkeit, effektiv den Schutz von Leben und Gesundheit einzufordern; durch Lohnfortzahlungen trotz Schließungen der Fabriken.« Prietos Livevideos aus Ciudad Juárez und Matamoros dokumentierten akribisch, welche nicht lebenswichtigen Betriebe trotz Regierungsdekret niemals die Produktion stoppten. »Niemand sonst gibt wie sie mit einer solchen Unermüdlichkeit der Arbeiterschaft eine Stimme.«
Die Stimme von Susana Prieto fehlt nun auch bei der Vertretung der Familienangehörigen der Toten im laut der Nachrichtenagentur Reuters »wohl schlimmsten Ausbruch in einer Fabrik auf dem amerikanischen Kontinent«. In der Río Bravo Fabrik des Autozubehörherstellers Lear war es Anfang April zu einer wahren Epidemie von Sars-CoV-2 unter den 3000 Angestellten gekommen. Lear Corporation schaltete eine Kondolenzanzeige in der lokalen Tageszeitung »El Diario«; bestätigt wurden schließlich 18 tote Mitarbeiter. Andere Quellen glauben, die tatsächlichen Zahlen könnten sich auf knapp 30 belaufen. Pikantes Detail: Eine deutsche Delegation könnte das Virus beim mehrtägigen Besuch in einem Areal eingeschleppt haben, wo Autositze für Mercedes-Benz gefertigt werden, so mutmaßten Angehörige gegenüber der Presse.
Kollegen der Verstorbenen wiesen darauf hin, dass diese in der letzten Arbeitswoche im März mit Symptomen zur Gesundheitsstation des Unternehmens gingen, aber sie mit Grippemitteln wieder zurück an den Arbeitsplatz geschickt wurden. Ganze drei Mal soll dies Adela García passiert sein, einer der Arbeiterinnen, die schließlich am Coronavirus verstarb. Laut dem Wirtschaftsmagazin »Forbes« empfahlen Lears Seuchenkontrollzentren in den USA erst Anfang April einen Mundschutz für Beschäftigte.
»Was bei Lear in Nordmexiko passiert ist, macht uns fassungslos«, sagt Jochen Schroth, Leiter des Ressorts Globalisierungspolitik beim Vorstand der IG Metall in Deutschland, zu den Covid-19-Todesfällen. IG Metall und die Betriebsräte erwarteten vom Unternehmen eine Aufklärung der Umstände. »Lear muss seiner Verantwortung für die Arbeit und das Leben aller Beschäftigten an allen Standorten nachkommen. Deshalb fordern wir die Unternehmensleitung auf, mit uns in Verhandlungen über eine globale Rahmenvereinbarung einzutreten, die Mindestarbeitsbedingungen weltweit regelt.«
Die Río Bravo Fabrik öffnete derweil am 11. Juni wieder ihre Werkstore. An den elf Standorten des Unternehmens Lear in Ciudad Juárez werden die 24 000 Schichtarbeiter und -arbeiterinnen mit Willkommensplakaten begrüßt. »Sichere Arbeit. Das schaffen wir gemeinsam«, heißt es da auf himmelblauem Untergrund. Ein Angestellter mit Arbeitskittel, Mund- und Sichtschutz blickt seinen Kollegen aufmunternd entgegen. Doch in den Personaltransporten herrscht Schweigen. Nicht nur wegen der Abstandsmaßnahmen. Die Menschen haben Angst. Denn in den Kantinen, auf den Toiletten und am Fließband lässt sich nur schwer Abstand halten. Und die Infektionskurve ist noch nicht gesunken. »Sie werden uns wie Schafe zur Schlachtbank führen«, mutmaßt ein Angestellter in der Facebook-Gruppe Lear Río Bravo. In Lears Fabrik in La Cuesta sollen nach der Wiedereröffnung schon zwei Arbeiter an Sars-Cov2 erkrankt sein und sich in einem kritischen Zustand befinden.
Am 18. Juni spendet das Unternehmen Lear eine Million US-Dollar für die Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen in Ciudad Juárez. Lear will den Familien der an Covid-19 verstorbenen Arbeitern und Arbeiterinnen eine Entschädigung von jeweils 2800 US- Dollar auszahlen. Ein neuer Kleinwagen kostet viermal so viel.
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