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»Ein Armutszeugnis«
Linksparteichef Bernd Riexinger über den zu geringen Anstieg des Mindestlohn
Welche ist für Sie die passende Schlagzeile zum Thema Mindestlohn: dass er zum 1. Januar auf 9,50 Euro oder dass er bis Juli 2022 auf 10,45 Euro steigt?
Der Beschluss der Mindestlohnkommission ist wirklich ein Armutszeugnis. Die Menschen, die von ihm leben müssen, müssen jetzt bis Mitte 2022 warten, bis sie endlich mal über zehn Euro die Stunde bekommen. Der Mindestlohn wird damit auch in den kommenden zwei Jahren deutlich unterhalb der Armutsgrenze liegen. Er müsste jetzt weitaus mehr steigen, damit die Menschen aus der Armutsfalle kommen.
Die Gewerkschaften haben deshalb zwölf Euro gefordert ...
Und inzwischen fordert auch die SPD zwölf Euro. Die Linkspartei hat dies schon lange gefordert und tritt mittlerweile für 13 Euro ein. Denn um nach 45 Jahren Vollzeitarbeit mehr Rente als die Mindestsicherung zu bekommen, muss man mindestens 12,63 Euro verdienen.
Anders als bei anderen Verhandlungsrunden zum Mindestlohn befindet sich das Land derzeit in einer massiven Wirtschaftskrise. Mit Verweis auf die Coronakrise kamen aus dem Unternehmerlager Rufe nach einer Nullrunde, sogar eine Absenkung war kurz im Gespräch. War dieses Mal überhaupt mehr drin?
Die Bundesregierung stützt mit zwei milliardenschweren Konjunkturprogrammen die Wirtschaft. Allein die Absenkung der Mehrwertsteuer verursacht Mindereinnahmen von 20 Milliarden Euro, obwohl wahrscheinlich der Großteil davon nicht an die Verbraucher weitergegeben wird.Eine große Erhöhung des Mindestlohns wäre jedoch eine wirkliche Konjunkturmaßnahme gewesen, da sie jenen Menschen zugute kommt, die jeden Cent zum Leben brauchen. Da wird jeder Cent mehr auch gleich ausgegeben und so die Wirtschaft angekurbelt. Das wäre aus volkswirtschaftlicher Sicht viel effektiver als die Mehrwertsteuersenkung gewesen, weil es auch den Staat nichts kostet, sondern die Privatwirtschaft dafür aufkommen muss.
Von neoliberalen Politikern und Ökonomen wird behauptet, dass schon die jetzt beschlossene Erhöhung zu hoch sei und die Unternehmen übermäßig belaste.
Schon vor der Einführung des Mindestlohns wurden der Untergang der Wirtschaft prophezeit und Horrorszenarien von Massenarbeitslosigkeit an die Wand gemalt. Das alles ist nicht eingetreten. Im Gegenteil - die wirtschaftliche Lage wurde besser.
Wurden die Arbeitnehmervertreter in der Mindestlohnkommission von den Arbeitgebervertretern dann über den Tisch gezogen?
Vermutlich war am Verhandlungstisch nicht mehr herauszuschlagen. Es war schon immer so, dass sich die Arbeitgebervertreter in der Kommission gegen eine vernünftige Anhebung sperrten. Deswegen muss sich die Politik einschalten. Der Bundestag sollte eine einmalige Anhebung des Mindestlohns auf ein Niveau oberhalb der Armutsgrenze beschließen, der den Menschen auch eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will das Mindestlohngesetz reformieren. Geht das in die richtige Richtung?
Ich bin gespannt, was er im September präsentieren wird. Wenn die SPD sich ernst nimmt, muss dies auch eine Anhebung auf zwölf Euro bedeuten. Am besten noch in dieser Legislaturperiode.
SPD-Chefin Saskia Esken hat schon erklärt, dass 10,45 Euro für sie »bei weitem« nicht ausreichen. Auch Heil sieht zwölf Euro als Ziel, will aber den Vorschlag der Mindestlohnkommission umsetzen. Wie passt das Ihrer Meinung nach zusammen?
Darin zeigen sich die Grenzen der Großen Koalition. Der Mindestlohn ist offenbar keine Sache, bei der die SPD richtig auf den Tisch hauen will. Sie hat noch andere Projekte wie die Grundrente, die sie umsetzen will. Doch für eine wirkliche Anhebung des Mindestlohns müsste sie sich eindeutig positionieren. Allein kann sie das gegen die Union nicht durchsetzen. Da müssen auch die Gewerkschaften Druck machen. Auch sie würden schließlich bei anstehenden Tarifverhandlungen von einem höheren Mindestlohn profitieren.
Inwiefern?
Wenn es einen höheren Mindestlohn gibt, dann hat das auch positive Auswirkungen auf Tarifverhandlungen. Gerade in den unteren Lohnbereichen muss man dann nicht mehr verhandeln. Und höhere Löhne zu erreichen, wird für die Gewerkschaften in der Krisensituation schwerer werden.
Ist nicht auch ein Problem, dass die Tarifbindung in Deutschland abnimmt?
Rund die Hälfte der Beschäftigten hierzulande hat keine Tarifverträge mehr. Das ist eine Schande und war auch mal anders. Im Einzelhandel zum Beispiel sind 2,5 Millionen Menschen beschäftigt, hauptsächlich Frauen. Diese Branche hatte bis 2001 einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag und eine Tarifbindung von 90 bis 95 Prozent. Dann kündigten die Arbeitgeber die Allgemeinverbindlichkeit. Seitdem ist die Tarifbindung auf ein Drittel gesunken. Dass heißt, dass zwei Drittel der Beschäftigten im Einzelhandel, die jetzt alle so nett beklatscht wurden, nicht mehr durch einen Tarifvertrag geschützt sind und viele von ihnen vom Mindestlohn leben müssen.Insofern ist auch der Mindestlohn eine Haltelinie, weil Tarifverträge für immer weniger Beschäftigte gelten. Von seiner Einführung 2015 profitierten 4,5 bis 5 Millionen Menschen. Da sieht man, wie weit das Lohnniveau schon nach Unten gedrückt war.
In den nordeuropäischen Ländern Dänemark, Schweden und Finnland gibt es keine allgemeingültigen, gesetzlichen Mindestlöhne, sondern nur Branchenmindestlöhne, die die Tarifpartner aushandeln. Trotzdem ist dort der Niedriglohnsektor weitaus kleiner als hierzulande. Ist nicht die Schwäche der Gewerkschaften das eigentliche Problem?
Diese Länder haben eine sehr hohe Tarifbindung von 80 bis 90 Prozent. Deswegen sind die Mindestlöhne dort nicht entscheidend. Aber hierzulande wurden die Gewerkschaften durch die Agenda 2010 und die Einführung von Hartz IV so sehr geschwächt, dass der Mindestlohn mittlerweile eine so große Bedeutung hat.
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