Corona gedeiht in der Armut
sieben tage, sieben nächte
Noch vor einigen Monaten hieß es, das Coronavirus sei der große Nivellierer, vor ihm seien alle Menschen gleich. Inzwischen aber wird deutlich: Der Erreger bevorzugt Orte, an denen das Geld fehlt. Covid-19 wird zur Pandemie der Armen, ob es sich um Fleischverarbeiter in Deutschland handelt, um migrantische Erntehelfer in Italien, schwarze Menschen in den USA oder um Geflüchtete in Lagern, Wohnheimen und auf den Feldern.
Dieses Problem wird anerkannt. Die Armen, so heißt es, seien besonders von der Pandemie betroffen. »Traurigerweise haben einige der verwundbarsten Teile der Bevölkerung die Kosten am schwersten zu tragen«, sagte diese Woche der US-Zentralbanker Charles Evans. »Arme besonders betroffen«, das klingt, als sei Armut lediglich eine äußerst ungünstige Bedingung, um die Pandemie zu überstehen. Das verfehlt den Kern der Sache.
Das Virus findet bei den Minderbegüterten gute Voraussetzungen, denn sie leben oft in beengten und hygienisch schlechteren Verhältnissen. Auch in der Pandemie müssen sie weiter zur Arbeit gehen, nicht obwohl, sondern weil die Arbeit ihnen wenig einbringt und wenig eingebracht hat - finanzielle Reserven fehlen. Und wenn sie überhaupt Lohnersatzleistungen beziehen, sind diese zu gering, da sie nur einen Teil des Verdienstes ersetzen, der bereits zu niedrig war.
Arme Menschen haben meist eine schlechtere - oder bei illegalisierten Migranten: keine - Gesundheitsversorgung. Sie ernähren sich schlechter, gehen auch krank zur Arbeit und sind es gewohnt, ihren Körper und ihre Gesundheit zu missachten - eine Gewohnheit, die der Arbeitsplatz häufig von ihnen verlangt und die quasi eine Zugangsvoraussetzung für ihren Job darstellt. Arme gehen daher seltener zum Arzt oder - wie viele Migranten im Süden Italiens - flüchten sogar vor Coronatests, weil sie Abschiebung fürchten und daher nicht auffallen wollen.
Damit ist Armut nicht bloß eine ungünstige Ausgangsbedingung für das Leben in der Pandemie. Sie ist das ganze Problem. Eine Aussage wie »Frost trifft Wohnungslose besonders hart« ist zwar nicht falsch. Doch setzt sie bei der Verschlimmerung des Problems an, dem Frost, und nicht beim Ausgangsproblem, der Wohnungslosigkeit.
Ähnlich ist es bei Corona und dem Klimawandel. In der Feststellung, dass Arme besonders betroffen sind und daher Hilfe benötigen, schwingt keine Kritik an der Armut mit. Weder wird gefragt, woher sie kommt, noch, wie sie zu beheben wäre. Sie ist schlicht Fakt, die »Realität«, mit der umzugehen ist. Das ist der Ansatz der Mildtätigkeit, die das Los der Armen erleichtert, ihren Status aber gar nicht revidiert.
Noch vor einigen Monaten hieß es, nach Corona würde alles anders werden. Inzwischen aber wird deutlich: Nichts wird sich ändern. Nicht von allein. Stephan Kaufmann
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