Vor dem Spiegel

Leo Fischer über die Verantwortung des Proletariats für die Politiker

Mit der Entwicklung der sogenannten Disziplinargesellschaft sah der französische Sozialphilosoph Michel Foucault den Beginn der Moderne terminiert. Leute, die nicht spuren, kriegen seither ordentlich auf den Dez, werden kaserniert, interniert und konsterniert, bis alles wieder im Lot ist und die Produktion neu anläuft, unabhängig von Rang und Ansehen. Deswegen kriegt die Supermarktkassiererin, die zwei liegengebliebene Pfandbons im Wert von 1,30 Euro einlöst, auch nach einem halben Jahrhundert Betriebszugehörigkeit die fristlose Kündigung; deshalb wird ein Bundespräsident, der mit einem falsch versteuerten Bobbycar auf der Autobahn erwischt wird, unter Vuvuzela-Getöse entlassen.

Dieses System wird in letzter Zeit als zu ungerecht, zu brutal angesehen; auch war Foucault mit seiner anfangs bejubelten Erfindung selbst nicht recht glücklich. Deswegen wird jetzt überall die Forderung nach weicheren Kriterien, Toleranzspielräumen und Grauzonen laut. Da ist beispielsweise der Fall Sigmar Gabriel (SPD): Seit März 2020 fungierte er als Berater von Tönnies, erhielt für seine leidenschaftliche Zurückhaltung in Sachen Fleischkrise einen Pauschalvertrag von 10 000 Euro im Monat sowie ein zusätzliches vierstelliges Honorar für jeden Reisetag. Mit Recht weist Gabriel nun darauf hin, dass es sich in der »Branche« durchaus um kein unübliches Honorar handelt, jedenfalls, wenn man nicht am Fließband steht, sondern am Schnittchenbüffet.

Da ist aber auch der Fall Philipp Amthor (CDU), der seine vom Steuerzahler mit einem Hungerlohn vergütete Abgeordnetentätigkeit dazu nutzte, auf Bundestagsbriefpapier seine Briefkastenfirma in den USA zu bewerben, in der neben Guttenberg, Maaßen und dem AfD-Finanzier von Finck noch sonstwer beschäftigt ist; vielleicht sogar Jair Bolsonaro und Josef Fritzl. Auch hier sind die von der Disziplinargesellschaft verordneten Strafen drakonisch: Amthor wird sich frühestens im September wieder im Fernsehen zeigen dürfen; Gabriel hingegen muss sich Arbeitgeber suchen, die über weniger hohe ethische Standards verfügen als Tönnies.

Zu Recht stellen diverse Leitartikler (Springer, Freunde von Springer) diese Art unbotmäßiger Strenge in Frage! Wie attraktiv ist der Standort Deutschland noch, wenn einem als Berufspolitiker jede kleine Nachlässigkeit sofort als Korruption ausgelegt wird - nur weil es sich zufällig wirklich darum handelt? Politiker sind auch Menschen. Infame, verlogene, für Kleckerbeträge käufliche Menschen - aber Menschen. Sollten ausgerechnet an sie strengere Regeln angelegt werden als an Arbeiter auf Werkvertragsbasis, die nicht neu beschäftigt werden, wenn sie nicht ihre freiwilligen 16-Stunden-Schichten ableisten? Dies kann zu einer erheblichen Einschränkung des subjektiven Gerechtigkeitserlebens von Berufspolitikern führen. Und wenn die erst mal eingeschränkt ist, dann braucht man sich auch über Korruption nicht wundern. Wenn eh alles egal ist!

Die »Stimme der Vernunft« fordert: Gerade unsere Arbeiter müssen in schwierigen Zeiten als Vorbilder funktionieren. Wenn Politiker in der menschenverarbeitenden Industrie vorgelebt bekommen, dass ganz ungeniert Pfandbons gemopst und Überstunden falsch aufgeschrieben werden, radikalisieren sie sich, verlieren den Glauben an ihr eigenes Mandat, erliegen irgendwann den Versuchungen von Aktienoptionen und Ballermann-Karaoke mit Clemens Tönnies! Hier ist das Industrieproletariat auch ein bisschen in der Verantwortung.

Politiker sind lediglich Spiegelbilder unserer Gesellschaft. Deshalb ist es unsere Pflicht, stets im Sonntagsgewand vor diesen Spiegel zu treten.

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