Heilen und Fördern

Für Langzeitarbeitslose gibt es durch das Teilhabechancengesetz neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 6 Min.

Es schien wie eine Flucht nach vorn. Vor zwei Jahren nahm Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vier Milliarden Euro in die Hand, um endlich wahr werden zu lassen, was gerne versprochen, aber bis dato nicht gehalten wurde: Jobs für Hartz-IV-Bezieher. Dazu wurde das Teilhabechancengesetz geschaffen, das Anfang 2019 in Kraft trat. Der Inhalt: Wer einen Langzeitarbeitslosen einstellt, erhält fünf Jahre lang einen Lohnzuschuss, zwei Jahre davon sogar 100 Prozent. Das Gesetz manifestiert quasi das Versagen der vorangegangenen »Instrumente«. In Bayern gab man sich mit der Vorlage aus Berlin nicht zufrieden, die bayerische Wirtschaft suchte mit einem eigenen Langzeitarbeitslosenprojekt die Hartz-IV-Landschaft nach sogenannten qualifizierbaren Menschen ab, um ihr Panikgefühl in Sachen »Fachkräftemangel« zu dämpfen.

Yusuf Hodiri arbeitet im Betrieb eines Bauunternehmers

»Nein, nein«, sagt Klaus Beier, stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit, auf der Pressekonferenz der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft. Das Pilotprojekt, um das es hier gehe, habe eine andere Zielgruppe als das Teilhabechancengesetz. Die Pressekonferenz findet im beruflichen Fortbildungszentrum der Wirtschaftsvereinigung an der Münchner Baierbrunnerstraße statt und am Ende des Besprechungsraumes sitzt ein Angehöriger der Zielgruppe: Yusuf Hodiri. »Es geht ganz gut«, sagt er, »nur die Sprache ist ein Problem.« Der 29-Jährige kam vor dreieinhalb Jahren als Flüchtling aus Syrien, hatte dort als Elektriker gearbeitet. Seit dem 1. November vergangenen Jahres ist er in einem Betrieb tätig, macht dort eine Weiterbildung. Zuvor war er arbeitslos, bis er zum Projekt »Langzeitarbeitslos - Chance zum Wiedereinstieg« kam. Von diesem Pilotprojekt erhofft sich die bayerische Wirtschaftsvereinigung eine Lösung für den von ihr ausgemachten Fachkräftemangel, bis 2023 will man 250 000 zusätzliche Arbeitskräfte gewinnen. »Gut die Hälfte der Teilnehmer konnte sich durch das Projekt neue Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt erschließen«, zieht dann Christof Prechtl, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Vereinigung, bei der Pressekonferenz Bilanz. Das sei »angesichts der schwierigen Voraussetzung der Zielgruppe ein sehr gutes Ergebnis«. Hodiri arbeitet im Betrieb von Bauunternehmer Johnny Bachmeier, und der sagt: »Wir finden einfach nicht genügend Fachkräfte.« Denn alle guten Fachkräfte hätten bereits einen Job. Deshalb sei er froh, dass nun Yusuf Hodiri aus dem Pilotprojekt bei ihm angefangen habe. Lohnzuschüsse erhält Bachmeier nicht.

Szenenwechsel: Die Adresse Waldmeisterstraße 95b im Münchner Norden besteht aus mehreren Industriehallen, in einer davon ist der Entsorgungsfachbetrieb ConJob untergebracht. Tritt man durch die Tür in die Halle, steht man inmitten von alten Verstärkern, Computern, Lautsprechern und sonstigem elektrischen Gerät. Hier arbeitet seit Juni vergangenen Jahres Thomas Möller als Lagerist. Soweit nichts Besonderes, würde sein Gehalt nicht vom zuständigen Jobcenter bezahlt. Möller ist einer von insgesamt 320 Menschen in München und 34 000 bundesweit, die als Langzeitarbeitslose durch das Teilhabechancengesetz eine feste Arbeitsstelle bekommen haben.

Er ist einer der wenigen Beschäftigten, die auch im April arbeiteten. Für viele andere hatte das Jobcenter wegen der Corona-Pandemie ein Beschäftigungsverbot erlassen. ConJob-Betriebsleiter Rolf Heymann: »Wir haben jetzt den ›normalen‹ Betrieb wieder aufgenommen, freilich mit technischen Vorkehrungen und einem Hygienekonzept.« Da die Wertstoffhöfe vier Wochen lang geschlossen waren, kam auch kein Recyclingmaterial herein, was zu Umsatzeinbußen führte. Mittlerweile arbeiten hier aber wieder 90 Prozent der Belegschaft.

Thomas Möller hat einen Job auf dem geförderten Arbeitsmarkt

Doch zurück zum Teilhabechancengesetz. »Es ist gut, dass die Arbeit endlich gewürdigt wird«, sagt Betriebsleiter Heymann, »das gibt den Leuten doch ein ganz anderes Selbstwertgefühl.« Seit 25 Jahren besteht der Entsorgungsbetrieb bereits, der im Rahmen eines geförderten Arbeitsmarktes der beruflichen Wiedereingliederung dient. 60 Mitarbeiter sind hier beschäftigt, und das auf unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen. Da sind zum einen die Langzeitarbeitslosen, die Hartz-IV-Leistungen beziehen und Geld hinzuverdienen dürfen, etwa 270 Euro im Monat. Dann gibt es Menschen mit einer Erwerbsunfähigkeitsrente, die hier bis zu 15 Stunden im Monat arbeiten können, zuständig ist für sie der Regierungsbezirk. Und dann sind da noch die neun Kollegen, die über das Teilhabechancengesetz bezahlt werden. Das sieht staatliche Lohnzuschüsse für Langzeitarbeitslose vor, die in den vergangenen sieben Jahren mindestens sechs Jahre arbeitslos waren. In den ersten zwei Jahren zahlt das Jobcenter alle Lohnkosten, danach sinkt der Lohnzuschuss um zehn Prozent jährlich. Er beträgt am Ende der Laufzeit von fünf Jahren also noch 70 Prozent.

Der 34-jährige Thomas Möller arbeitet im Lager, einer Halle gegenüber. Hier verpackt er die gebrauchte Ware in Kartons und macht sie versandfertig. Gerade zieht er einen Gabelstapler mit einer Palette voller Pakete durch die Halle. »Das hier sind Computer, die gehen bis nach Spanien«, erklärt er. Das innere Verpackungsmaterial produziert er selbst, indem er mit einer Maschine alte Pappkartons zerhäckselt.

Als Zehnjähriger kam Möller zusammen mit seiner Mutter aus einer Kleinstadt in Sachsen nach München. Zweimal machte er einen Anlauf für eine Lehre als Verkäufer, die er aber nicht beendete. Dann kam 2013 eine Umschulung zur Fachkraft für Lagerlogistik, aber er fand nur Jobs auf Zeit, wurde schließlich »Harzer«, wie er sagt.

Möller ist jünger als der Durchschnitt der 34 000 Langzeitarbeitslosen, die durch das Teilhabegesetz einen Job gefunden haben, die meisten sind über 45 Jahre alt. Die Hälfte hat keine Berufsausbildung.

Das Besondere an den Teilhabeprojekten ist eine intensive sozialpädagogische Begleitung. »Der ganzheitliche Betreuungsansatz durch einen Coach, der den Teilnehmern als Kontaktperson zur Verfügung steht und der hilft, Vermittlungshemmnisse abzubauen, war ein klarer Erfolgsfaktor und hat dazu beigetragen, die Abbruchrate zu senken«, erklärt die bayerische Wirtschaft.

Das Projekt - es ging von Mitte 2019 bis Anfang 2020 - war in zwei Phasen aufgeteilt: Nachdem im ersten Abschnitt die individuellen Kompetenzen festgestellt wurden, stand anschließend eine passgenaue Qualifizierung sowie die Vermittlung an geeignete Betriebe im Mittelpunkt. »Es ist wichtig, die Menschen gezielt, also gemäß ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten zu fordern und zu fördern, damit sie dauerhaft als Fachkräfte im ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen«, so der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Christof Prechtl. Insgesamt nahmen an dem Projekt 73 Personen teil, von denen 22 abbrachen und schließlich 21 in Betriebe übernommen wurden, das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 43 Jahren. Vermittelt wurde in das Baugewerbe, die Hotellerie sowie die Logistikbranche.

Sorge um einen Rückfall in den Hartz-IV-Bezug

Das Ziel des Projektes ist klar. Die bayerische Wirtschaftsvereinigung sieht bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt einen wichtigen Baustein, um Fachkräfte zu gewinnen. Nach einer verbandseigenen Studie »Arbeitslandschaft 2025« würden im Jahr 2025 etwa 2,9 Millionen Fachkräfte am deutschen Arbeitsmarkt fehlen, davon 350 000 in Bayern. Im Freistaat werden derzeit insgesamt 42 000 Langzeitarbeitslose gezählt. Allerdings ist es wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie völlig unklar, wie sich der Arbeitsmarkt künftig entwickeln wird.

Thomas Möller profitiert indes vom Teilhabechancengesetz. Denn es stellt auch Mittel für Qualifizierungen bereit, die es ihm ermöglichen, den Führerschein zu machen; nächste Woche ist die theoretische Prüfung. Denn »als Lagerist brauchst du einen Führerschein«, ist seine Erfahrung. Noch kommt er mit dem Rad in den Betrieb, Arbeitsbeginn ist um 7.30 Uhr.

Beide Förderungsmaßnahmen zeigen dagegen deutliche Unterscheidungen auf: Da ist zum einen das Bemühen, »Qualifizierbare« am ersten Arbeitsmarkt unterzubringen und so Bedürfnisse der Wirtschaft zu stillen. Und zum anderen ist da das Vier-Milliarden-Projekt von Hubertus Heil, um die Wunden zu heilen, die das Hartz- IV-System erzeugt hat. Deren Teilnehmer kommen wie Thomas Möller überwiegend auf dem geförderten Arbeitsmarkt unter - in München etwa entfallen 71 Prozent der Beschäftigung auf gemeinnützige wohlfahrtsorientierte Unternehmen oder auf Betriebe aus dem Münchener Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm. Sind die fünf Jahre Förderung vorbei und wird die Stelle dann gestrichen, fallen die Teilnehmer wieder ins Hartz-IV-System zurück. Denn einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben sie nicht.

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