Wut normalisieren

IN SCHLECHTER GESELLSCHAFT: Deutsche halten sich für die Verkörperung der Vernunft, umgeben von Wahnsinn. Das hat System.

  • Sibel Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Wut ist Deutschen zwar nicht unbekannt – ein Gradmesser dafür ist, wie oft über die sogenannten Wutbürger:innen und »dauerempörten Schneeflocken« geredet wird. Dennoch gibt es viele, die gesellschaftlich so gut gestellt sind, dass sie keinen Grund haben wütend zu sein – es sei denn, auf die Wut anderer. Diese Menschen halten sich für die Verkörperung der Vernunft, umgeben von Wahnsinn. Wut kann für sie einige Ursachen haben: Irrationalität, Ungebildetheit, Geschlecht ... Nur eins kann sie nicht: Legitim sein.

Am 25. Juni war die Kabarettistin Idil Baydar Gästin bei Maybrit Illner, um über Polizeigewalt in Deutschland zu diskutieren. Die Besonderheit dieses Talks war nicht nur, dass sich die Redaktion bemühte, die Runde divers zu gestalten, sondern auch die Wut, die zur Geltung kam, als Baydar von Rassismus sprach. Dass sich von Idil Baydars ungefilterter Wut Tausende Menschen vertreten fühlten, wurde während und nach der Sendung in sozialen Netzwerken sichtbar.

Sibel Schick
Sibel Schick ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschland. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellschaft«.

So zufrieden wie manche Zuschauer:innen waren die Teilnehmer:innen allerdings nicht. So musste sich Baydar zuerst von Sebastian Fiedler (Bundesvorsitzender Bund Deutscher Kriminalbeamter), der ebenso am Tisch saß, anhören, dass ihre Wut ein »Bühnenprogramm« sei. Kurz darauf empörte sich Wolfgang Bosbach (CDU), der mitdiskutierte, über die Art ihres Vortrags und forderte, sie solle »das Niveau anheben«.

Ähnlich wie Bosbach fanden auch so manche Social-Media-Nutzer:innen Baydars Wut »niveaulos«. Dieser Vorwurf ist nicht nur wirr (denn wer entscheidet, was niveauvoll ist?), sondern diskreditiert die Rednerin. Er lenkt von den Argumenten ab. Anstatt auf Baydars Worte einzugehen, spricht man über ihre Ausdrucksweise. Man hört ihr nicht zu und begründet es mit ihrem Verhalten.

Frauen kennen abwertende Reaktionen auf ihre Wut. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, ebenso. Idil Baydar ist beides. In ihrer Rede »Die Nutzen des Ärgers« stellt die Autorin Audre Lorde die These auf, dass weiße Frauen die Wut Schwarzer Frauen ablehnen, weil sie sie verunsichere. Weil sie nicht wüssten, wie sich ihr Leben ändern würde, wenn sie auf wütende Schwarze Frauen eingehen würden. Die vermeintlichen Schuldgefühle weißer Frauen stehe der Selbstreflexion und inneren Änderung im Weg, führe zur Aufrechterhaltung der Ignoranz und des Status quo. Wenn wir Wut ernst nehmen und darauf eingehen, müssen wir also unser Verhalten ändern. Und dafür sind wir uns zu schade. Deshalb ist das Einfachste, was wir machen können, die Wut zu diskreditieren.

Aber marginalisierte Menschen brauchen Wut, um nicht durch die täglichen Verletzungen zugrunde zu gehen. Und auch, damit ihnen überhaupt zugehört wird. Margarete Stokowski schrieb auf Spiegel-Online in Bezug auf die taz-Kolumne »All Cops are berufsunfähig«: »Hätte Hengameh Yaghoobifarah eine sachlich-ruhige Reportage darüber geschrieben, dass migrantische oder queere Leute manchmal ein nicht so gutes Verhältnis zur Polizei haben, dann hätte diesen Text einfach kaum jemand gelesen.« Sie hat recht: Trotz zahlreicher Reportagen über Polizeigewalt in Deutschland ist deren Dimension kaum jemandem klar, weil diese eben nicht flächendeckend gelesen werden.

Wut ist essenziell für politische Arbeit. Sie kann als Antrieb genutzt werden. Kollektive Wut von marginalisierten Gruppen zeigt einzelnen Betroffenen, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine sind, gibt ihnen Kraft und Hoffnung. Audre Lorde beschreibt die Umsetzung der Wut im Sinne der Zukunftsvisionen in Wort und Tat als eine »befreiende, stärkende Art der Aufklärung«. Wut führe dazu, dass man seine Verbündeten und Feinde identifiziere. Demnach verrät die Reaktion auf die Wut, wo Menschen politisch stehen.

Wut zu unterdrücken kann krank machen, daher muss der Emotion mehr Raum gegeben werden. Wut ist eine gesunde, legitime Emotion und eine logische Folge von Diskriminierung. Wut verschwindet nicht, wenn man sie unterdrückt oder sanktioniert. Wir müssen Wut normalisieren. Deutschland muss dringend aufhören, die Wut marginalisierter Gruppen zu dämonisieren, nur um ihnen nicht mehr zuhören zu müssen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.