Einbruch im Osten wie zuletzt 1990

Dresdner Ifo-Institut rechnet nicht damit, dass die neuen Länder glimpflicher durch die Coronakrise kommen

  • Hendrik Lasch, Dresden
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Glaskugel auf dem Tisch ist gelb und hat Einschlüsse wie Perlen in Mineralwasser. Die habe er benutzt, um die aktuelle Konjunkturprognose seines Hauses zu erstellen, sagt Joachim Ragnitz, Vize-Geschäftsführer der Dresdner Filiale des Ifo-Instituts. Das ist selbstverständlich ein Scherz; die Prognose basiert wie alle vorher auf Angaben von Firmen und Auswertung vieler Zahlen. Gleichwohl sei sie mit »deutlich größerer Unsicherheit« behaftet und »sehr stark auf Annahmen gestützt«, räumt Ragnitz ein. Der Grund ist naheliegend: Mit einer »Erholungsphase nach staatlich verordneten Produktionsstilllegungen« hat die Branche keinerlei Erfahrung.

Basierend auf zwei sehr grundlegenden Annahmen - es kommt keine zweite Infektionswelle, und die Weltkonjunktur erholt sich - trifft das Dresdner Institut aber dennoch Vorhersagen für die Wirtschaft in Ostdeutschland und Sachsen. Sie lassen sich zur Kernaussage bündeln: Der Osten wird nicht schlechter, aber auch nicht deutlich besser durch die Krise kommen als die deutsche Wirtschaft im Ganzen.

Deren Bruttoinlandsprodukt soll aktuellen Szenarien zufolge im Jahr 2020 um 6,7 Prozent einbrechen. Für Ostdeutschland gehen die Dresdner Forscher von minus 5,9 Prozent aus, für Sachsen dürfte das Minus wegen des höheren Anteils der besonders gebeutelten Industrie bei 6,4 Prozent liegen. Insgesamt sei das ein Einbruch ohne Beispiel - beinahe. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges »hat es so etwas noch nirgendwo gegeben«, sagt Ragnitz - »außer 1990 in Ostdeutschland«.

Als vor 30 Jahren die DDR-Wirtschaft abgewickelt wurde, kostete das viele Betriebe die Existenz und enorm viele Beschäftigte ihren Job; die Zahl der Erwerbstätigen in der Industrie ging um fast 70 Prozent zurück. So schlimm wird es jetzt bei weitem nicht kommen. Die Zahl der Erwerbstätigen in der gesamten Wirtschaft dürfte dieses Jahr um ein Prozent sinken, das sind 80 700 in Ostdeutschland, davon 20 700 in Sachsen. Nur ein Teil der Menschen wird bei der erwarteten Erholung im kommenden Jahr wieder in Arbeit kommen. Der Zuwachs wird auf lediglich 0,3 Prozentpunkte beziffert. Der Grund dafür, dass der Wiederanstieg »relativ schwach« ausfallen werde, dürften Insolvenzen vieler Betriebe sein.

Die könnte es vor allem in der Industrie sowie in Handel, Gastgewerbe und Verkehr geben. Auf die entsprechende Frage der Forscher hätten 21,5 Prozent der Unternehmen im ostdeutschen verarbeitenden Gewerbe angegeben, die Lage als existenzbedrohend anzusehen; in Sachsen lag die Zahl sogar bei 27,6 Prozent. Bundesweit sehen sich 17,7 Prozent der Firmen in der Branche als akut gefährdet. In Handel, Gastgewerbe und Verkehr, wo bundesweit fast jedes vierte Unternehmen von Existenzgefährdung spricht, sieht man im Osten nicht ganz so schwarz; mit 19 Prozent in der gesamten Region und 13 Prozent in Sachsen sind die Zahlen aber immer noch bedrückend.

Sie konterkarieren auch optimistische Annahmen, wonach der Osten besser durch das Tal kommen könnte. Sachsens SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig etwa sieht Chancen durch die Kleinteiligkeit der Wirtschaft. Ragnitz widerspricht. Deren Kehrseite sei, dass in der Regel auch weniger Eigenkapital und Reserven zur Verfügung stünden, was den Unternehmen im Zweifel das Genick bricht: »Die Insolvenzgefahr im Osten ist genau so groß, womöglich größer als im Westen«, sagt er: »Ich bin nicht so zuversichtlich, dass Sachsen da glimpflicher herauskommt.«

Derlei drohende Pleiten abzuwenden, hätte nach Ansicht des Instituts mehr Augenmerk bei den staatlichen Konjunkturpaketen erhalten müssen. Diese setzten stark auf Darlehen, die viele Firmen aber womöglich nicht in Anspruch nähmen, weil sie bei dennoch eintretender Pleite dann noch höhere Schulden hätten. Zudem gebe es hohe Zugangshürden für die Programme, was von Anträgen abschrecken könnte. Ragnitz hätte, sagt er, wegen der von Staatsseite verfügten Beschränkungen Entschädigungszahlungen für »angemessener« gehalten als Kredite; es sei aber klar, dass solche Maßnahmen noch weit teurer geworden wären als die jetzt geschnürten Hilfspakete.

Mit Blick in die Zukunft ist das Ifo-Institut bedingt optimistisch. Es sieht den Tiefpunkt bereits im II. Quartal diesen Jahres durchschritten und sagt für 2021 eine deutliche Erholung voraus. In Ostdeutschland könnte das Bruttoinlandsprodukt demnach um 5,8 Prozent wachsen, in Sachsen um 6,3 Prozent - womit die aktuelle Delle weitgehend ausgebügelt wäre. Ende 2021 könne das Niveau von vor der Krise wieder erreicht sein. Dieses Szenario würde bedeuten, dass der jetzige Einbruch »ein einmaliger Ausrutscher« wäre, sagt Ragnitz. Jedoch halten es die Forscher auch für »nicht unwahrscheinlich, dass die Krise länger anhält« und eine zweite Welle eine »großräumige Wiederaufnahme« der Beschränkungen erfordere. Eine »Normalisierung« würde dann weit später erfolgen. Ob es tatsächlich dazu kommt, verrät freilich selbst Ragnitz’ Glaskugel nicht.

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