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  • Architektur der Flucht

Flüchtige Bauten

Gibt es eine Architektur der Flucht? Vom Lager der Refugees zu Notunterkünften und kostengünstigem Wohnungsbau

  • Jürgen Tietz
  • Lesedauer: 9 Min.

Am Anfang stehen die Katastrophen. Hunger, Krieg oder politische Verfolgung, aber auch Naturkatastrophen und wirtschaftliche Not treiben die Menschen in die Flucht. Angesichts solcher Gefahren verlassen sie ihre Heimat, ihre Freunde und Familien. Manchmal nur vorübergehend, allzu oft jedoch auf Dauer. Sie begeben sich auf Wege ins Ungewisse.

Etliche der Flüchtlinge überleben ihre Flucht nicht, sterben an Krankheiten oder Hunger, zahlreiche werden Opfer von Gewalt. Viele stranden irgendwann und irgendwo in einem der über 1.000 Flüchtlingslager, die es derzeit weltweit gibt. Die Architektur, die dort entsteht, ist jedoch häufig alles andere als flüchtig. Vielfach wächst ihr eine unerwartete Dauer zu, sie nimmt nach und nach städtische Formen an.

So auch in Kutupalong in Bangladesch, derzeit das größte Flüchtlingslager der Welt, das unweit der Grenze zu Myanmar liegt. Geschätzt bis zu 850.000 Rohingya, eine aus Myanmar vertriebene muslimische Minderheit, leben heute in Kutupalong. Andere Zahlen gehen von »lediglich« 600.000 Einwohnern aus. Gleichwohl würde Kutupalong nach seiner Einwohnerzahl immer noch zu den zehn größten Städten in Deutschland gehören.

Fotos des Lagers zeigen provisorische Architekturen, zusammengeschustert aus Bambusstangen, Flechtwänden und Plastikfolien. Dicht an dicht stehen die Hütten, die lediglich einen notdürftigen Schutz gegen Hitze und Wetter bieten, an staubigen Straßen, die überfüllt sind mit Menschen.

Kutupalong ist bei Weitem kein Einzelfall. Überall dort, wo politische oder religiöse Konflikte eskalieren, gehören Flüchtlingslager zum Alltag. Die Hauptlast der Versorgung von Flüchtlingen mit Raum, Nahrung und Bildung tragen zumeist die unmittelbaren Nachbarländer. Im Syrienkonflikt etwa sind dies der Libanon, Jordanien und die Türkei. Flüchtlingslager sind fragile Gebilde, denn stets besteht die Gefahr, dass sie selbst zum Konflikt- und Krisenherd werden, dass sie einer innen- oder außenpolitischen Instrumentalisierung anheimfallen.

Die Geschichte der Migrationsbewegungen ist lang. Ja, sie ist selbst ein konstituierender Teil der europäischen Geschichte und hat sich von der spätantiken Völkerwanderung der »Barbarenhorden«, ihren Einfällen und Plünderungen, bis zur nachfolgenden Transformation von Gesellschaften in die Kulturgeschichte des Kontinents eingeschrieben.

Vielfach spiegeln sich die durch Flucht und Vertreibung angestoßenen Veränderungen bis in die Gegenwart. So fanden mit dem Edikt von Potsdam (1685) rund 20.000 französische Hugenotten eine neue Heimat in Preußen. Nach und nach wuchsen sie in die Gesellschaft der Residenzstadt hinein, verdienten ihr Brot als Tagelöhner, Gastwirte, Unternehmer oder Dichter, wie der großartige Friedrich Baron de la Motte Fouqué, der mit seiner Novelle »Undine« zu den Mitbegründern der deutschen Romantik zählt.

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Bis heute sind die einstigen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich architektonisch in Berlin greifbar, mit dem Französischen Dom auf dem Gendarmenmarkt. Ein Spaziergang über den 1780 angelegten Französischen Friedhof an der Chausseestraße erweist sich als ein Ausflug in dieses Kapitel der deutsch-französischen Kulturgeschichte, klassizistische Mausoleumsarchitektur inklusive. Auf französische Glaubensflüchtlinge geht auch der Name des trendigen Berliner Kiezes Moabit zurück. Für König Friedrich Wilhelm I. bauten sie hier Maulbeerbäume zur Seidenraupenzucht an. Zwar scheiterte das Experiment aufgrund des schlechten märkischen Bodens – die Moabiter Hugenotten blieben.

Es gab keineswegs nur Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen. Angesichts der schlechten politischen und wirtschaftlichen Lage Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten allein über den Überseehafen Bremerhaven rund 7,2 Millionen Deutsche auf der Suche nach einem besseren Leben in die Neue Welt aus, um Not und Unfreiheit zu entkommen. Ihre Geschichten werden heute im Deutschen Auswandererhaus in Bremen erzählt.

Nach 1945 wurden die Nissenhütten aus Wellblech zu den gebauten Symbolen für Flucht und Vertreibung. Ihren Namen verdanken sie dem kanadischen Ingenieur Peter Norman Nissen (1871-1930). Bereits im Ersten Weltkrieg für die britische Armee entwickelt, waren sie seriell vorfabriziert, damit leicht zu transportieren und schnell aufzustellen. Damit erfüllten sie die wichtigsten Anforderungen an flexibel einsetzbare Notunterkünfte. Im zerstörten Deutschland wurden die halbkreisförmigen Hütten nach 1945 häufig als Unterkünfte für Hunderttausende sogenannte »Displaced Persons« eingesetzt.

Während diese provisorischen Nissenhütten nach und nach wieder verschwanden, mussten für die Millionen Flüchtlinge aus Ostpreußen oder Schlesien neue Unterkünfte entstehen. Vor allem in westdeutschen Städten wurden dafür neue Stadtteile mit einfachen Wohnbauten angelegt, neue Gotteshäuser inklusive, was den zuvor nie gekannten Kirchbauboom im Deutschland der 1950er Jahre erklärt.

Deutlich spiegeln sich darin die beiden unterschiedlichen Aspekte der Architektur für Flüchtlinge. Einerseits sind dies tatsächlich »flüchtige« Bauten der schnellen Nothilfe und andererseits die Beispiele eines kostengünstigen Wohnungsbaus für den dauerhaften Aufenthalt. Beides Themen, die in den Überlegungen der Moderne der 1920er Jahr verwurzelt sind, mit den Fragen nach industrieller Vorfabrikation, dem wachsenden Haus sowie der Unterkunft für das Existenzminimum.

Notunterkünfte sind ihrer Natur nach provisorisch, also temporär angelegt und damit Beispiele einer ephemeren, wieder verschwindenden Architektur. Einer Architektur, die schnell errichtet werden muss, um unverzüglich Obdach zu gewähren. Wer dort wohnt, der will und soll nicht auf Dauer bleiben müssen.

Allzu oft entwickeln provisorisch entstandene Flüchtlingslager aufgrund der politischen Lage jedoch eine ganz eigene Dynamik. Temporär geplante Architekturen und Stadtstrukturen verstetigen sich. Ihre Bewohner sind ungewollt und unverschuldet in ihrer Situation gefangen, müssen die oft katastrophalen hygienischen und sozialen Verhältnisse erdulden.
Wo immer möglich und rechtlich überhaupt genehmigt, wandelt sich dann das Erscheinungsbild der Architektur. An die Stelle von einfachen Holz- oder Bambusgerüsten, von Wellblech und Plastikplanen tritt dauerhafteres und widerstandsfähigeres Baumaterial wie Ziegel oder Beton. Staubige Wege verwandeln sich in Straßen. Darüber spannen sich wirre Bündel aus gefährlichen elektrischen Leitungen.

Diesem dauerhaft provisorischen »Wohnen auf der Flucht« sind Aly el Masry, Lore Mühlbauer und Wajiha Shihab im »Handbuch und Planungshilfe Flüchtlingsbauten« (DOM Publisher) unter anderem am Beispiel des Libanon nachgegangen. Flüchtlingslager wie Burj el-Barajneh und Shatila am Rande der libanesischen Hautstadt Beirut haben sich zu dichtesten urbanen Strukturen verfestigt. Die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge, darunter viele aus Syrien, sind erschreckend. Sie leben in Häusern mit »gefangenen« Räumen, die ohne Fenster angelegt wurden, ohne natürliche Belichtung und Lüftung. »Die Wohnungen sind mit einer als Toilette, Dusche, teilweise auch als Küche genutzten Wasserstelle mit Ablauf ausgestattet, die ausschließlich mit Salzwasser versorgt wird«, schreiben die Autoren über ihren Besuch in Beirut 2016.

Mit der Frage der Rolle von Flüchtlingslagern und deren Konzeption, die durch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), streng normiert ist, hat sich der in Basel lehrende Architekt Manuel Herz am Beispiel Afrikas kritisch auseinandergesetzt. Flüchtlingslager sind für Herz »die vermutlich direkteste Umsetzung von Politik in Raum«. Die nach dem Konzept des UNHCR entwickelten Formen der weltweiten Flüchtlingslager kritisiert er deutlich: »Mit einem einzigen Modell in allen Krisengebieten operieren zu wollen spiegelt in fast entblößender Weise die Mechanismen und Muster der Kolonialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts wider, die Werte der Aufklärung in das >wilde Afrika< oder den Orient bringen sollten. Die schöne Ordnung, die auf westeuropäischen Wertevorstellungen beruht, wirkt jedoch in der staubigen Hitze der Wüste oder den Tropenwäldern, und häufig in nächster Nähe zu kriegerischen Auseinandersetzungen, wie eine Narrenplanung«, schreibt er auf seiner Website mit Blick auf die Flüchtlingslager im zentralafrikanischen Tschad, die er bei einer Ausstellung 2010 im Innsbrucker Architekturforum Tirol thematisiert hat. Für die Architekturbiennale 2016 in Venedig hat er an dem Zeltpavillon für die West-Sahara mitgewirkt. Darin wurden urbanistische und architektonische Konzepte der Sahrawi-Bevölkerung vorgestellt, die seit 40 Jahren als Flüchtlinge im Grenzgebiet zu Algerien leben und dort eine Architektur zwischen Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, zwischen Bescheidenheit und Dekoration, zwischen Tradition und Moderne entwickelt haben.

Wenn es um Notunterkünfte und die Architektur von Flüchtlingslagern jenseits von Plastikplanen und Containern geht, dann fällt schnell der Name von Shigeru Ban. 2014 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet, dem »Nobelpreis« der Architektur, hat sich der japanische Architekt vielfach mit dem Thema der Notunterkünfte und Flüchtlingsarchitektur auseinandergesetzt. Sein Baumaterial Papier ist durch und durch japanisch. Doch im Gegensatz zu den traditionellen Sho¯ji, den haudünnen Papierwänden japanischer Häuser, verwendet Ban stabilere Papierrollen. Sie können als tragende Strukturen verwendet werden, wie nach dem Erdbeben in Haiti 2010, oder für die Gliederung einer Massenunterkunft in einer großen Halle nach Erdbeben und Tsunami in Japan, um wenigsten einen Hauch von Privatsphäre zu ermöglichen. Aus den Rollen können aber auch schnell Wände für Notunterkünfte errichtet werden wie 1995 nach einem schweren Erdbeben in Ko¯be. Im gleichen Jahr errichtete Ban 50 Flüchtlingsunterkünfte aus recycelten Papierröhren. Er wollte deren Beständigkeit gegenüber Feuchtigkeit und Termiten überprüfen, um sie für die Flüchtlinge des Genozids im afrikanischen Ruanda einzusetzen.

Die Flüchtlingslager im Libanon, in Syrien oder im Norden Afrikas liegen nur wenige Flugstunden entfernt. Gedanklich sind sie im Alltag häufig viel weiter weg. Mit der gestiegenen Zahl von Flüchtlingen 2015 rückten die Themen der Flucht und die damit verbundene Frage der Unterkunft ins Zentrum des Diskurses in Deutschland. Wie sind Zehntausende, Hunderttausende Menschen aus unterschiedlichen Regionen der Welt und mit ebenso unterschiedlichen Kulturen jenseits von Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften angemessen unterzubringen?

Mit seinem Beitrag »Making Heimat« eröffnete das Deutsche Architekturmuseum DAM auf der Biennale 2016 in Venedig einen Ansatz, der über Containerdörfer oder durch Vorhänge notdürftig untergliederte Massenunterkünfte in Hallen hinausging. In einer Datenbank wurden Lösungen vorgestellt, die mit architektonischem Anspruch konzipiert sind. Deutlich zeigen sich dort die unterschiedlichen Herausforderungen und Schnittstellen zwischen den Bauaufgaben. Sie reichen von der ersten Unterkunft wie bei einer schnell und günstig zu verwirklichenden Leichtbauhalle (günther & schabert Architekten, München) bis zu langfristigen kostengünstigen Wohnlösungen.

Dazu zählt die großartige Parkplatzüberbauung am Dantebad in München von Florian Nagler. Dank ihrer Holzrahmenbauweise besitzt sie neben der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit auch eine Nachhaltigkeit, die durch ihre Materialität bestimmt wird. Das Thema der »Heimat« greift das Architekturbüro Graft mit der Vision »Heimat 2« auf. Mit der bisher nicht realisierten modularen Architekturidee zielen die Berliner Architekten darauf ab, nicht »nur Wohnplätze, sondern lebenswerte Wohndörfer mit Modellcharakter« zu verwirklichen. An der Schnittstelle zwischen Architektur und Gesellschaft entstehen Orte des persönlichen Austauschs im urbanen Raum wie mit dem Berliner »Kitchen-Hub«, das am Fachgebiet Habitat Unit der TU Berlin zusammen mit »CoCoon – contextual construction« entstand.

Inzwischen ist das Jahr 2015 mit seinen Flüchtlingszahlen in Deutschland längst durch die Corona-Pandemie und ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen verdrängt. Doch gerade Covid-19 stellt für die Bewohner von Flüchtlingslagern, wie dem derzeit größten Flüchtlingslager Europas, Moria auf der griechischen Insel Lesbos, eine immense Gefahr dar. Ursprünglich für 3.000 Bewohner gedacht, leben dort rund 20.000 Menschen in Plastikverschlägen, einer Nicht-Architektur ohne die Chance, »soziale Distanz« einzuhalten. Angesichts des hochansteckenden Virus besteht dadurch eine immense Gefahr für die Bewohner des Lagers.

Weitere Informationen:
https://dah-bremerhaven.de/museum/#173
http://www.makingheimat.de/fluechtlingsunterkuenfte/datenbank
https://graftlab.com/de/portfolio_page/heimat2

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