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Worte, Geld und Waffen

Wie die EU-Südgrenze in die Sahelzone verschoben wird und wem das nützt

  • Sigrun Matthiesen
  • Lesedauer: 9 Min.

Thomas Meaney ist US-amerikanischer Historiker und Schriftsteller mit Wohnsitz in Berlin. Seit 2015 befasst er sich mit der europäischen Migrationskrise und ist dafür ausgiebig durch mehrere afrikanische Staaten der Sahelzone gereist. Als »Writer in Residence« am Göttinger Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethischer Gesellschaften wertet er derzeit seine Rechercheergebnisse aus und befasst sich mit neuen Denkweisen zur Zukunft der Migration. Der folgende Text stützt sich auf seine Veröffentlichungen und ein ausführliches Gespräch mit ihm.

In Niger, erzählt Thomas Meaney, gebe es Dutzende Bezeichnungen dafür, Menschen von A nach B zu bringen. »Damit hängen die unterschiedlichsten Formen von Arbeit zusammen: Man geht aus Niger nach Libyen, um dort einen Sommer oder länger auf dem Bau zu arbeiten. Oder man findet vielleicht einen Job in Mali für ein paar Monate. Menschen reisen also umher, und natürlich gibt es Leute mit Lastern oder Bussen, die deren Transport übernehmen, und sie transportieren auch Waren.«

Logistikbranche nennen wir solche Unternehmen hier in Europa. In Afrika dagegen werden sie pauschal als »Schmuggler« oder »Schlepper« diffamiert. Natürlich gäbe es die aus unseren Heimatländern wohlbekannten »schwarzen Schafe« auch in der Transportbranche Nigers, »teilweise wirklich mit üblen Geschäftspraktiken«. Dennoch rechtfertigten sie nicht die Obsession, die westliche Medien seit 2015 entwickelt haben: »Selbst die anspruchsvollsten Publikationen haben sich dem ganzen Migrationsthema plötzlich nur noch aus der Perspektive >Menschenschmuggel< genähert. Für mich ist das eine alte Schwäche des westlichen Journalismus, immer danach zu fragen, wer die Bösen sind. Und eine Unfähigkeit oder Unwillen, sich mit strukturellen Fragen zu beschäftigen oder sie auch nur zu stellen.«

Strukturell betrachtet leuchtet ein, was der Politologe Max Gallien in seiner Doktorarbeit über die politische Ökonomie des informellen Handels in Nordafrika herausgefunden hat, nämlich dass informell nicht gleichbedeutend ist mit regelfrei. In den an die Sahara angrenzenden Staaten existierte über 30 Jahre lang ein sorgfältig austariertes System. Staatsbedienstete, Kleinunternehmer und Kunden wussten, welche Preise für welche grenzüberschreitenden Transporte zu zahlen waren. Die Grenzen selber, auch das gehört zur Struktur, sind von Kolonialherren nach deren Gutdünken gezogen worden und haben nichts mit den dort teilweise lange vorher existierenden Wirtschaftsräumen zu tun. Entsprechend wenig Grund gab es jahrzehntelang auch für die Regierungen von Niger, dem Tschad oder Mali, sie zu verteidigen. Vor allem, weil dank des grenzüberschreitenden Logistikgewerbes und der damit verbundenen zirkulären Migration Arbeit und Einkommen entstanden, die keines dieser Länder alleine hätte bieten können.

Doch seit ein paar Jahren gilt die Sahelzone als »südliche Außengrenze der EU«, zitiert Thomas Meaney einen europäischen Botschafter in Niger. Als Gegenleistung für ein EU-Investitionspaket für »Sicherheitstechnik« in Höhe von einer Billion Euro verabschiedete die Regierung Nigers 2017 ein Anti-Schmuggel-Gesetz. Die Politikberater, die Präsident Mahamadou Issoufou dafür angeheuert hatte, stammten aus Europa. Dorthin fließt auch ein gehöriger Teil des investierten Geldes zurück.

Denn Wärmekameras, Drohnen, die Menschen sichten, Nachtsichtgeräte, fünf Meter hohe Metallzäune und anderes Equipment zur Grenzsicherung werden ja nicht in der Sahelzone produziert, sondern in Deutschland, Belgien und anderen EU-Staaten oder in den USA. Die Logistikbranche Nigers dagegen befindet sich seit Abschluss jedes Abkommens in einer massiven Krise. Davon zeugen Hunderte dramatisch auf den Kopf gestellter Pick-ups, die Thomas Meany bei seiner Recherchereise auf einer Militärbasis im Herzen Nigers gesehen hat. »Überall in der Hauptstadt Niamey hängen plötzlich Plakate, die Schmugglern mit astronomischen Strafzahlungen von zwischen umgerechnet 1500 und 4500 Euro drohen.«
Diese Kehrtwende in der Regierungspolitik geschah wohlgemerkt ohne Übergangsfristen, Staatshilfen oder Kompensationszahlungen, wie sie hierzulande weit größere Konzerne bei weit kleineren Anlässen erhalten. »Die Leute hatten quasi über Nacht nichts mehr zu tun und keine Einnahmen mehr. Man verspricht ihnen neue Jobs, aber diese Jobs gibt es dort natürlich gar nicht, sie entspringen den Fantasien von Menschen, die im Silicon Valley oder anderen westlichen Techno-Enklaven sozialisiert sind und denken: Hey, die können doch einen Coffee-Shop aufmachen.«

Niger, daran muss an dieser Stelle erinnert werden, gehört zu den ärmsten Ländern auf dem afrikanischen Kontinent. Weshalb es, genau wie die anderen Staaten der Sahel-Region, Gelder der sogenannten Entwicklungshilfe bekommt. Für den Historiker Thomas Meaney ein gleichermaßen altes wie zweifelhaftes Konzept der Migrationsverhinderung. »Lange verfuhr man ja nach der Devise: Wenn wir Brücken und Straßen und Gewerbeparks bauen, sorgen wir dafür, dass sich diese Länder wirtschaftlich besser entwickeln und dann bleiben die Leute dort. Das stimmt natürlich nicht, denn je mehr sich ein Land entwickelt, umso mehr Menschen haben überhaupt genug Geld, um die Kosten für eine Reise nach Europa irgendwie zu stemmen. Die Forschung zeigt aber auch eindeutig, dass es bei Entwicklungshilfe sehr darauf ankommt, wofür das Geld verwendet wird.«

So wie es derzeit in den Staaten der Sahelzone ausgegeben wird, spräche man anderenorts von Veruntreuung. Das beginnt mit den vernichteten Jobs in Nigers Logistikbranche, denn auch das dort für Sicherheitstechnik gegen Schmuggler gezahlte Geld stammt größtenteils aus Entwicklungshilfe-Budgets. 135 Millionen Euro aus einem EU-Afrika-Fonds sind nach Libyen geflossen, zur Aufrüstung der dortigen Küstenwache und an die Abteilung zur Bekämpfung illegaler Migration. Finanziert werden damit unter anderem Söldner, die in den Abschiebelagern auf libyschem Boden regelmäßig Menschen foltern, die versucht haben, aus Ländern der Sahelzone und anderen Regionen Afrikas nach Europa zu gelangen. Selbst der Sudan bekam allein im Jahr 2016 von den USA und der EU zusammen 120 Millionen Euro, sagt Thomas Meaney.

»Obwohl Omar al-Baschir zu den schlimmsten Diktatoren Afrikas zählt und wegen seiner unzähligen Menschenrechtsverstöße quasi nirgends auf der Welt empfangen wird, zögerte man nicht, ihn dafür zu bezahlen, dass er mit EU-Geldern die eigene Bevölkerung einsperrt.« Die neue schnelle Eingreiftruppe Baschirs mit dem Kürzel RSF (Rapid Special Forces) bestehe vorwiegend aus Veteranen des Dafur-Krieges und geht erbarmungslos gegen Regimekritiker vor. Ihr Kommandant, General Mohammed Hamdan, Spitzname Hameti, hat über die vergangen fünf Jahre ein eigenes lukratives Geschäftsmodell entwickelt: Menschen werden zuerst wegen ihrer Migrationsabsichten verhaftet und in ein Lager nach Karthum, der Hauptstadt des Sudan, gebracht. Von dort können sie sich dann aber, gegen entsprechende Zahlungen an den RSF, über die Grenze nach Libyen transportierten lassen. Wer nicht zahlen kann, wird zur Zwangsarbeit auf von den RSF kontrollierte Baustellen verschleppt.

Bislang streiten alle EU-Offiziellen ab, dieses zwielichtige Wachschutzunternehmen direkt zu bezahlen. Doch ein RSF-Kommandeur selbst nahm kürzlich in einer ARD Fernsehreportage von 2016 kein Blatt vor den Mund und beklagte, dass seine Unternehmungen im Interesse der Migrationsverhinderung von der EU nicht ausreichend finanziert würden. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass Menschen wie Dirk Niebel, von 2009 bis 2013 FDP-Bundesminister für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit, mittlerweile Lobbyist für den Rüstungsbetrieb Rheinmetall, wissen, auf welchen Wegen Gelder zu verschieben sind, damit sie bei jenen ankommen, die motiviert und in der Lage sind, westliche »Sicherheitstechnik« einzukaufen.

Doch sollte eine Öffentlichkeit, die auf jede »Schlepper-Reportage« mit größter Sensibilität reagiert, nicht auch Schmerzgrenzen haben, wenn mit ihren Steuergeldern massive Menschenrechtsverletzungen finanziert werden? Thomas Meaney ist da skeptisch. »Der jeweilige Machthaber wird einfach immer als das kleinere Übel präsentiert, entweder im Vergleich zu seinem Vorgänger oder im Vergleich zu anderen Herrschern, die ihn vermeintlich bedrohen. Das geht umso einfacher, je kleinteiliger die jeweiligen Maßnahmen werden. Es gibt eben keine gemeinsame europäische Strategie mehr, mit mittelfristigen oder gar langfristigen politischen Zielen, sondern kurzfristige bilaterale Abkommen mit wem auch immer.« So wie man das jetzt schon in Mali oder Libyen sehen könne, wo unterschiedliche westliche Länder nicht nur unterschiedliche Machthaber unterstützen, sondern sich die jeweiligen Loyalitäten im Verlauf der Zeit auch schnell verändern. Das macht es selbst interessierten Menschen schwer, den Entwicklungen dort zu folgen. Wer es dennoch tut, versteht, wie sehr die jeweiligen Interventionen Teil nicht etwa der Lösung, sondern der Probleme sind, die in den Nachrichten bestenfalls unter Schlagwörtern wie »Chaos«, »Bürgerkrieg«, »Dschihadisten« oder »Warlords« vorkommen.

Diese kurzsichtige nervöse Interventionspolitik, so Thomas Meaney, habe sich seit 2015 deutlich verstärkt. »Während es in den frühen 2000ern noch Ansätze zu einer größeren Zusammenarbeit zwischen den nordafrikanischen Staaten gegeben hat, und die sich gemeinsam auch nach Süden hin orientiert haben. Mittlerweile hat die EU angefangen, nordafrikanische Staaten wie Marokko und Tunesien gegen die weiter südlich gelegenen regelrecht aufzuhetzen.«

Wenn es für Menschen aus Mali, dem Tschad oder dem Sudan aber noch nicht mal mehr möglich ist, vom relativen wirtschaftlichen Wohlstand ihrer nördlichen Nachbarländern zu profitieren, entstehen neue Gründe, sich gleich auf den Weg nach Europa zu machen. In weite Ferne gerückt sind alte Träume, dass afrikanische Staaten eine gemeinsame Verhandlungsposition finden und so dem Norden endlich angemessene Preise abtrotzen könnten, für all die Rohstoffe, ohne die unsere koloniale Lebensweise schon längst nicht mehr liefe. Verhindert wird das auch dadurch, so Meaney, dass »zwischen den Eliten in Europa und Afrika eine derartige Überschneidung und Verquickung von Interessen herrscht, dass man sie kaum auseinanderhalten kann«. Weswegen er auch nicht mehr mit dem großen Begriff »Kolonialismus« operieren wolle, sondern lieber von der erweiterten Innenpolitik eines rassistischen Neoliberalismus spricht.

Der Marburger Politikwissenschaftler Fabian Georgi benutzt für seine auf historischem Materialismus und kritischer Theorie gründende Analyse der restriktiven Migrationspolitik den Ausdruck »Fortress Capitalism«, also etwa Burgkapitalismus, und bezeichnet ihn als Reaktion auf die strukturelle Krise des Kapitalismus: Überschüssiges Kapital findet in globaler Militärtechnologie neue Anlagemöglichkeiten. Widerstandsstrategien der Arbeiterklasse, sich durch Bewegung bestimmten lokalen Arbeitsbedingungen zu entziehen, werden unterbunden. Gleichzeitig stellt diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit der vielen sicher, dass die dem Kapital nützliche und notwendige Art von Einwanderung einiger weiterhin politisch durchsetzbar bleibt.

Als Schriftsteller formuliert Thomas Meaney eine ähnliche These etwas weniger abstrakt: »Wir beschäftigen uns so obsessiv mit Migration, damit wir nicht über prekäre Verhältnisse sprechen müssen.« Jene Verhältnisse also, die dazu führen, dass auch im reichen Deutschland immer mehr Menschen fürchten, der Job, der sie gerade so ernährt, könnte jederzeit weg sein und das soziale Netz, das mittlerweile Hartz IV heißt, werde sie dann nicht mehr auffangen, weil immer mehr Menschen einreisen, die auch auf diese Unterstützung angewiesen sind. Die wiederum tun das, weil die Verhältnisse in den Ländern, aus denen sie weggehen, mit prekär noch milde beschrieben sind. Sprächen wir also mehr über diese Verhältnisse und weniger über Migration, erinnerten wir uns möglicherweise daran, dass die Grenzen nicht zwischen den Völkern verlaufen, sondern … – und das wäre nun wirklich geschäftsschädigend.

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