Nackt aus dem Nest gefallen
Der Roman »Was man sät« von Marieke Lucas Rijneveld ist ein düsteres Märchen, das vom Horror der Vereinzelung erzählt
Die Katastrophe beginnt mit einem Wunsch für Weihnachten. Die zehnjährige Jas bemerkt vor dem Fest, dass der Vater ihr Kaninchen mästet. Sie bietet Gott anstatt des Tieres den älteren Bruder an und Gott erhört das Mädchen, zum einzigen und letzten Mal. Daraufhin wird er für den Rest dieser düsteren Geschichte schweigen. Der Bruder bricht beim Schlittschuhfahren ins Eis ein und ertrinkt. Von dem Verlust schwer getroffen, ziehen sich die Eltern daraufhin in sich zurück. Die Mutter isst nicht mehr und erklärt, sterben zu wollen. Der Vater widmet sich nur noch seiner Arbeit als Landwirt. Aber auch hier ist keine Erlösung vorgesehen. Die Maul- und Klauenseuche trifft den Bauernhof der Familie hart und stürzt sie noch tiefer ins Verderben.
Die Eltern vernachlässigen ihre Kinder emotional, woraufhin diese eingehen wie ausgesetzte Haustiere. Jas zieht ihre Jacke nicht mehr aus und verweigert den Stuhlgang. Nur so glaubt sie noch einen Rest Kontrolle ausüben zu können. So bewahrt sie zumindest einen Teil von sich, wohl im Wissen, dass niemand sie retten wird. Gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester will sie »auf die andere Seite« gehen; es ist ein Sehnsuchtsort, der sowohl die Stadt jenseits des Dorfes bezeichnen könnte als auch das Jenseits schlechthin. Die Kinder sehnen sich nach dem Tod. Jas’ Bruder quält und ermordet Tiere. Die Geschwister flüchten sich in ungelenke, brutale Sexualpraktiken und Gewaltexzesse. Sie versuchen so, die Familie zu retten, die Eltern auf sich aufmerksam zu machen. »Opfer« nennen sie ihre Auswege aus der Trauer. Die Familie gehört einer strengen orthodox-calvinistischen Gemeinde an. In ihrer Verzweiflung adaptieren die Kinder religiöse Verfahren, wo soziale Empathie gefragt wäre.
Marieke Lucas Rijneveld erzählt von der Liebe als Abwesendes. Erfahren Menschen Zuneigung, können sie dem Unglück trotzen, das ihnen unweigerlich widerfährt. Jas’ Eltern aber sind zu schwach. Sie sind nicht fähig, nach dem Tod ihres ältesten Sohnes Hoffnung und Zuversicht zu stiften, mit dem Verlust weiterleben zu können. Die Wunde vernarbt nicht, bleibt weit offen und verschlingt eine ganze Familie.
Ihre Gemeinde pocht auf Regeln, Ordnung und Arbeit. Die Menschen hier sind einander nicht zugeneigt, sondern richten sich ganz auf das Land und den Himmel aus. So verlieren sie den Nächsten aus dem Blick, der Trost spenden könnte und des Trostes bedarf. Im Umgang miteinander sind die Bauern des Dorfes grobschlächtig, vergeblich erwarten sie göttliche Erlösung von ihrem Leid, ohne zu versuchen, sich gegenseitig zu heilen. »Niemand im Dorf beschäftigte sich lange mit sich selbst, dann konnte es nämlich passieren, dass die Ernte verkümmerte, und wir kannten nur die Ernte vom Land, nicht die in uns.«
Der Roman »Was man sät« ist aber nicht in erster Linie eine Kritik an der Religion. Diese Geschichte könnte auch in kulturell anders geprägten Gemeinschaften spielen und genauso hoffnungslos verlaufen - in jeder Gemeinschaft, die keine Strategien zur Heilung seelischer Wunden kultiviert hat. Rijneveld schildert so eindrücklich und bedrückend, wie sehr Menschen auf Empathie und Zusammenhalt angewiesen sind und wie leicht sie zerbrechen. »Ich frage mich, warum ein schlechter Mensch wie Hitler gerettet werden konnte und mein Bruder nicht. Warum die Kühe getötet werden müssen, obwohl sie nichts falsch gemacht haben.« Ein Kind findet sich allein gelassen mit der Theodizee. Dieses Buch zeigt: Ein Mensch allein kann das Unglück des Lebens nicht verwinden.
Die junge Autorin, 1991 geboren, gilt in den Niederlanden als literarischer Shootingstar. »Was man sät« ist ihr Debütroman. Rijneveld kommt von der Lyrik, hat bereits zwei Gedichtbände vorgelegt, was man ihrem Stil anmerkt. Ihre Übersetzerin Helga von Beuningen trifft virtuos ihren Rhythmus, spürt sensibel den düster komponierten Sätzen nach, die immer wieder entzweibrechen und den Leser ins Dunkel verlassener Seelen blicken lassen. Jas findet ständig ungewöhnliche Assoziationen, wühlt sich durch die Worte, als böten sie einen Fluchtweg aus der grausamen Wirklichkeit. »Im Verlust finden wir uns selbst und sind, wer wir sind: verletzliche Wesen wie gerupfte Starenjunge, die ab und an nackt aus dem Nest fallen und hoffen, dass sie wieder aufgesammelt werden.« Man mag einwenden, dass sich die Erzählerin nicht der Sprache einer Zehnjährigen bedient. Oftmals erscheinen Vokabular und Reflexionen zu elaboriert und abstrakt. Aber es ist auch kein psychologisches Buch, so hart die Figuren hier auch um ihr Leben kämpfen. Es ist ein finsteres Märchen, das vom Horror der Vereinzelung erzählt. Man darf es wohl nicht ohne Warnung empfehlen. Hier wird eine Apokalypse geschildert, hier brennt die Welt, hier gehen Kinder an Traurigkeit zugrunde. Es ist harter Stoff, manche Stellen sind schwer erträglich. Jas ist als eine negative Version von Pippi Langstrumpf zu verstehen. Das stärkste Kind der Welt kann alles und schafft alles, weil es, egal in welcher Situation, festen Grund unter den Füßen spürt. Rijnevelds Kinderfiguren dagegen fallen tief, weil niemand sie hält.
Marieke Lucas Rijneveld: Was man sät. A. d. Niederl. v. Helga von Beuningen, Suhrkamp, 317 S., geb., 22 €.
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