- Kommentare
- CDU-Aktionswoche
»Kommt, lasst uns alle Juden sein!«
Mit ihrer Aktionswoche veranstaltet die CDU ein symbolpolitisches Spektakel, welches das Judentum als bloße Bühne benutzt.
Vor einigen Jahren hat der Komiker Oliver Polak auf Youtube ein Lied veröffentlicht. Im Musikvideo ist zu sehen, wie er durch eine bundesdeutsche Innenstadt läuft und dabei den Refrain »Kommt, lasst uns alle Juden sein« singt. Dabei verwandelt Polak mit einem magischen Zauberstab Passanten, Polizisten und sogar einen deutschen Schäferhund auf wundersame Weise in Juden.
Mittlerweile ist das Video gelöscht. Was aber damals eine nette, wenn auch etwas flache Fantasie eines übertrieben selbstbetont jüdischen Comedians war, scheint diese Woche auf eine so makabre Art Realität geworden zu sein, dass es einem die Sprache verschlägt.
Im Rahmen ihrer aktuellen Kampagne »Von Schabbat zu Schabbat«, einer Aktionswoche zu jüdischem Leben in Deutschland, hat die CDU auf ihren Seiten in den sozialen Medien unter anderem eine Fotoserie veröffentlicht, die dem Publikum die jüdischen Feiertage näherbringen soll. Fünf CDU-Politiker*innen posieren mit jüdischen Kultgegenständen oder sind gänzlich als Juden verkleidet: Annegret Kramp-Karrenbauer hält eine Chanukkia in den Händen, lässig schwingt sie den Leuchter samt angezündeter Kerzen; Stefan Evers präsentiert sich gar in Vollmontur – mit Kippah, Tallit und Gebetbuch. Fehlt nur noch ein Hans-Georg Maaßen in Gebetsriemen oder eine Sylvia Pantel mit Kopftuch (ja, orthodoxe verheiratete Jüdinnen bedecken auch ihr Haar).
Im Russischen, der Muttersprache der meisten in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, gibt es ein geflügeltes Wort, das auf die fatale Währungsreform von 1993 in Russland zurückgeht: »Wir wollten das Beste, aber heraus kam’s so wie immer.« So wie immer hat hier ein symbolpolitisches Spektakel stattgefunden, in dem das Judentum nichts mehr als eine leere Hülse darstellt. Es ist auf besitzerlose Symbole reduziert, mit denen die hegemoniale Mehrheit dieses Landes herumspielen kann, wie es ihr beliebt. Eine Inszenierung, die das Judentum als Bühne benutzt, als Projektionsfläche deutsch-postnazistischer feuchter Träume, die ihren Höhepunkt in der Beschwörung einer 1700-jährigen christlich-jüdischen Leitkultur findet.
Wie sehr die jahrelang wiederholten »Wieder jüdisches Leben in Deutschland«- und »Nie wieder Antisemitismus«-Floskeln zu Lippenbekenntnissen verkommen sind – falls sie denn jemals etwas anderes waren –, zeigt der Blick auf die Realität dieses Landes.
Während die größte Partei Deutschlands mit ihrer Theateraufführung beschäftigt ist, laufen in Magdeburg die Vorbereitungen für den Halle-Prozess, der nächste Woche beginnt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Justiz uns einen weiteren Einzeltäter präsentieren wird, ist hoch. Überhaupt sollte die Hälfte der Prozesstage anfänglich an jüdischen Feiertagen stattfinden, sodass die rund 40 jüdischen Nebenkläger*innen, deren Leben das eigentliche, gewollt-begehrte Ziel des Attentäters waren, wahrscheinlich nicht teilgenommen hätten. Auch wenn die Verhandlungen nun an anderen Tagen stattfinden werden – dieser Vorfall zeigt die Ignoranz und Arroganz der deutschen Justiz, die Lichtjahre entfernt ist von der so gerne von der CDU gepredigten christlich-jüdischen Tradition dieses Landes.
Wem das noch nicht ausreicht, sollte sich überlegen, um wie viel schlimmer es um andere (religiöse) Minderheiten bestellt ist, die nicht einmal offiziell zum politischen Selbstverständnis Deutschlands dazugehören. Rechtsradikale, antisemitische und rassistische Gewalt breitet sich in Deutschland immer weiter aus, ohne von der Politik tatsächlich gestoppt zu werden. Corona bietet den Nährboden für antisemitische Verschwörungstheorien, die den Schriftleitern des »Völkischen Beobachters« das Wasser im Mund zusammenlaufen ließe. Erhobenen Fingers wird ein weiteres Mal gemahnt, dass es in diesem Land keinen Platz für Antisemitismus gibt, tatsächlich ändert sich nichts – im Gegenteil, schleichend verschlechtert sich die Situation.
Das wahre Problem von Rassismus und Antisemitismus ist, dass sie den durchschnittlichen Mehrheitsdeutschen nicht wirklich stören. Natürlich ist man entrüstet oder gar entsetzt, wenn ein Anschlag auf eine Synagoge passiert oder Besucher einer Shisha-Bar niedergemetzelt werden. Man zeigt sich solidarisch, will, dass sich was ändert, veranstaltet Aktionswochen, bläst ins (Widder-)Horn. Doch diese Solidarisierung mit den Betroffenen ist nur halbherzig. Einen selbst wird es niemals treffen, und den meisten Menschen in diesem Land fehlt es anscheinend an Empathie und Mitgefühl, sich tatsächlich so weit in die Situation hineinzuversetzen, dass man davon nicht bloß betroffen, sondern tatsächlich auch persönlich getroffen ist.
Bis dahin werden auf uns wohl noch weitere Inszenierungen zukommen, in denen eine falsche Solidarität gefeiert wird und marginalisierte Gruppen ihrer Kultur, Tradition und Religion beraubt werden, um sich damit zu schmücken. Bleibt nur zu hoffen, dass Oliver Polak möglichst bald einen Zauberstab erfinden wird, der den Deutschen Reflexion und Mitgefühl einpflanzen kann.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.