Safari an der Elbe
Das Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe ist die Heimat von Weißstörchen, Seeadlern, Bibern, Unken und Fledermäusen. Umweltschützer renaturieren selten gewordene Auenlandschaften.
Wildgänse haben Vorfahrt! Selbstbewusst watschelt die Mutter in der Mitte des Pfades, im Schlepptau sechs Küken. Gänsemarsch. Eine Handvoll Radler folgt in respektvollem Abstand - schiebend, denn schließlich sind sie hier die Eindringlinge. Rechts und links erstreckt sich Wildnis: schilfgesäumte Tümpel und überwachsene Wassergräben, umgestürzte Bäume. Auenland!
«Hier hat die Elbe wieder Raum bekommen», sagt Meike Kleinwächter vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) beim Radeln. «Wir haben ein Stück Deich in der Elbtalaue bei Lenzen mehr als einen Kilometer ins Land zurückverlegt, rund 10 000 neue Büsche und Bäume gepflanzt und Gewässer angelegt.» Wo früher Landwirtschaft betrieben wurde, soll wieder ein urwüchsiger Auenwald entstehen.
Die erste große Deichrückverlegung Deutschlands fand im Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe statt. Das Schutzgebiet geht auf das vor 30 Jahren beschlossene Nationalparkprogramm der DDR zurück - heute erstreckt es sich über fünf Bundesländer. Auf Burg Lenzen in Brandenburg hat das Auenzentrum des BUND seinen Sitz, in einer Ausstellung können sich Besucher hier über die Arbeit der Naturschützer informieren und einen weiten Blick vom Burgturm werfen.
Der Verband engagiert sich in mehreren Großprojekten für die Renaturierung der Auenlandschaften, von denen an der Elbe nur noch 20 Prozent erhalten seien, erklärt Kleinwächter: «Insbesondere die Auenwälder bilden nicht nur einen wertvollen Lebensraum für bedrohte Arten, sondern dienen auch als CO2-Speicher und absorbieren dreimal so viel Wasser wie Grünland - dadurch können Hochwasserspitzen abgefangen werden.»
Immer wieder plädierten Umweltschützer in der Vergangenheit dafür, den Flüssen für den Hochwasserschutz mehr Raum zu geben. Meist vergeblich. Der Ablauf hat sich inzwischen eingespielt: Nach großen Hochwassern wie zuletzt 2013 geloben viele Politiker Besserung. Doch nach einigen Wochen setzt das ein, was Experten die «Hochwasserdemenz» nennen. Umso mehr, wenn über mehrere Jahre Dürreperioden folgen.
Um Ökonomie versus Ökologie ging es auch bei der Kontroverse über den geplanten Neubau der Autobahn A 14. Die Strecke zwischen Schwerin und Magdeburg soll quer durch das Biosphärenreservat verlaufen. CDU-Politiker forderten den zügigen Bau im «größten autobahnfreien Raum Deutschlands» - trotz umstrittener Prognosen zum zu erwartenden Verkehrsaufkommen. Seit Kurzem ist der Weg für den Bau gegen Erfüllung einiger Auflagen frei.
Inzwischen haben die Radler die Elbe erreicht: Knorrige Silberweiden säumen das Ufer, Schafe weiden auf Resten des alten Deichs, Efeu erobert einen ehemaligen Grenzturm. Zu Mauerzeiten versuchten hier manche die Flucht übers Wasser. Der Fluss war Sperrgebiet - nicht einmal die Lenzener bekamen ihn zu sehen. Abgeschottet durch die Grenze, hat der drittgrößte deutsche Strom Charakter bewahrt: Weitgehend freifließend mäandert er durch die Landschaft, bildet Sandbänke und Strände.
Viele seltene Tier- und Pflanzenarten leben hier - und so wird die Radtour zur Safari: Seeadler kreisen, Störche picken auf den Wiesen. Immer wieder hört man Rotbauchunken oder den heiseren Schrei eines Kranichs. «Früher gab es hier nur monotones Grünland. Jetzt fanden Forscher 26 Fisch- und 10 Amphibienarten in den neu angelegten Tümpeln», berichtet Meike Kleinwächter.
Doch in der Deichrückverlegung bleibt auch Kulturlandschaft erhalten - dank der «Liebenthaler Wildlinge». Kleinwächter stoppt an einer großen Wiese, auf der Pferde grasen. «Wildpferde», sagt die Naturschützerin. «Man erkennt sie an ihrer weißen Schnauze und den Streifen auf den Vorderbeinen.» Die Wildlinge sind ein beliebtes Fotomotiv der Radler, die hier auf dem Elbe-Radweg vorbeikommen.
Noch mehr Tiere entdeckt man bei einer Kanufahrt auf der Elbe: In Wahrenberg in Sachsen-Anhalt kann man Kanus mieten oder sich einer geführten Paddeltour anschließen. Schon von Weitem ist das Örtchen mit seinen Storchennestern auf hohen Pfählen zu sehen, bis zu 20 Paare brüten hier regelmäßig. Im März fliegen die ersten ein, und auch im Frühsommer herrscht reger Flugbetrieb, wenn die Eltern ihre Jungen füttern.
Sobald alle ihren Paddelrhythmus gefunden haben, geht es gemächlich flussabwärts. Sandstrände gleiten vorbei, die Spitzen von Kirchtürmen ragen über den Deich. Einmal stürzt sich ein Seeadler in den Fluss, taucht mit einem Fisch wieder auf, doch dann entgleitet ihm die Beute. Brandgänse streiten am Ufer, später zeigen sich Austernfischer. Nur ein Elbebiber will sich nicht sehen lassen - einst fast ausgerottet, ist er inzwischen wieder heimisch.
Immer wieder halten alle beim Paddeln inne, lauschen auf das Gurgeln der Strömung. Das Land an beiden Ufern scheint menschenleer. Dann gleitet Urwald vorbei: mächtige Eichen und Ulmen. «Die Hohe Garbe», sagt Naturschützer Dieter Leupold vom BUND, der heute bei der Tour dabei ist. «Einer der letzten verbliebenen Hartholz-Auenwälder an diesem Elbabschnitt - und ein weiteres unserer Projekte.»
Bis vor Kurzem war der Auenwald der Hohen Garbe durch einen alten Deich vom Kommen und Gehen der Fluten abgeschnitten, die für die Artenvielfalt so wichtig sind. Doch seit Januar 2020 kann die Elbe hier bei Hochwasser wieder frei einströmen - zur Freude der Seeadler, die in den knorrigen Eichen des uralten Waldes ihre Horste haben.
Zuvor musste Leupold, der seit vielen Jahren am Biotopverbund des Grünen Bandes entlang der einstigen innerdeutschen Grenze arbeitet, mit jedem einzelnen Privateigentümer auf der Halbinsel über einen Tausch oder Verkauf seines Landes verhandeln. Die Einheimischen sollten beim Naturschutz «mitgenommen» werden - auch im Rahmen einer regelmäßigen «Auenwerkstatt» mit Exkursionen und Gesprächen.
«Was ist das für ein Vogel?», ruft jemand und deutet auf einen Schatten am Himmel. «Ein Rotmilan», sagt Dieter Leupold, «einer der am stärksten bedrohten Vögel.» Weltweit gibt es nur noch rund 25 000 Brutpaare, die Hälfte davon lebt in Deutschland. «Ihr Schutz ist deshalb eine besondere Verantwortung für uns», sagt der Experte. Immer wieder kommt einer der seltenen Vögel in Sicht, und die Kanuten genießen das Privileg, sie beobachten zu können.
Der Tag klingt im verwunschenem Park von Burg Lenzen am Flüsschen Löcknitz aus. Zwei Rangerinnen der Brandenburger Naturwacht sind zu Besuch, auf einem schwimmenden Holzsteg packen sie merkwürdige Geräte aus: «Fledermausdetektoren», sagt Ricarda Rath. «Sie machen die Ultraschalltöne der Tiere für den Menschen hörbar.»
Tatsächlich: Immer, wenn die Schatten der nachtaktiven Insektenfänger sich vom Abendhimmel abheben, erklingen Töne: ein Ploppen, Knacken, Knirschen. Und die Unken liefern dazu die Hintergrundmusik. Schweigend genießt die Gruppe die Abendstimmung. Da löst sich plötzlich ein Schatten vom Ufer, paddelt an der Baumreihe entlang, verschwindet wieder. Keiner sagt etwas, alle wissen es: Das kann nur der Biber sein, endlich!«
Tipps
Auskunft: www.reiseland-brandenburg.de www.dieprignitz.de www.Bund.net/auenzentrum
Anreise: Besonders ursprünglich sind die Elbauen im Dreiländereck zwischen Schnackenburg (Niedersachsen), Wahrenberg (Sachsen-Anhalt) sowie Lenzen und Wittenberge (Brandenburg).
Touren: Die Naturwacht Brandenburg hat preisgünstige Ranger-Erlebnistouren im Biosphärenreservat im Programm, z. B. zu den Störchen und Kranichen.
Kanus: Die Kanustation Elbtalaue vermietet Kanus für individuelle Touren und veranstaltet geführte Flussfahrten, z. B. zu den Seeadlern oder an Vollmondabenden.
Touren: Führungen, Rad- und Kanutouren im Rahmen der Corona-Regeln bietet auch das Besucherzentrum auf Burg Lenzen an.
GPS-Auentour: Per kostenloser App kann man auf der westlichen Elbseite mit Fahrrad und Handy aufbrechen. Die 26 Kilometer lange Runde führt zu Aussichtspunkten, Dörfern und Gedenkstätten zwischen der Elbe und dem Flüsschen Aland. Im App-Store oder Playstore unter »Auenerlebnis an Elbe und Aland«.
Übernachten: In historischer Industriearchitektur wohnt man in der Alten Ölmühle Wittenberge.
Die Recherche wurde unterstützt vom BUND.
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