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»Wer nicht passt, wird ausgegrenzt«

Der hessische Polizist Martin Kirsch zum »NSU 2.0« und rechten Netzwerken unter Beamten

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 8 Min.

Mehrere Personen des öffentlichen Lebens erhalten derzeit »NSU 2.0«-Drohbriefe, gespickt mit internem Behördenwissen. Selbst Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) will ein rechtes Netzwerk in der Polizei nicht mehr ausschließen. Wie wird das Thema unter Beamten diskutiert?
Die Kollegen, die ich kenne, regen sich darüber auf, was da für eine Scheiße passiert. Ich kenne auch keinen Polizisten, der diese Drohbriefe gutheißen oder tolerieren würde. Bezüglich der Berichterstattung gilt: Je undifferenzierter die Beiträge, desto größer die Wagenburgmentalität.

Der Polizeibeamte, unter dessen Kennung auf die Daten der Linksfraktionschefin Janine Wissler zugegriffen wurde, behauptet, er war es nicht. Er wird nun nur als Zeuge geführt, nicht als Beschuldigter. Ist das aus polizeilicher Sicht nachvollziehbar?
Es ist frustrierend und unzureichend, dass keine weiteren Maßnahmen gegen den Kollegen veranlasst werden. Schon als 2018 die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz entsprechende Drohungen erhielt, hatte man eine vorherige Datenabfrage auf dem 1. Frankfurter Polizeirevier festgestellt. Die Beamtin, unter deren Benutzername diese Abfrage getätigt wurde, behauptete ebenfalls, dass sie es nicht war. Dennoch gab es bei ihr eine Hausdurchsuchung, bei der die Ermittler auf Chatgruppen mit rechtsextremen Inhalten stießen. Auch in den aktuellen Fällen muss es bei verdächtigen Kollegen Durchsuchungen geben. Äußert jemand nur eine Schutzbehauptung? Ist er in der rechtsextremen Szene aktiv? Das muss doch geklärt werden.

Kritischer Polizist
Martin Kirsch begann seine Karriere 2006 als Schutzpolizist im gehobenen Dienst in Hessen. Nach dem Einsatz in der Bereitschaftspolizei war er in Frankfurt am Main als Streifenbeamter auf dem 1. Polizeirevier eingesetzt. 2017 wurde er Angehöriger des Polizeipräsidiums Mittelhessen, seit 2019 arbeitet er bei der Kriminaldirektion. Der Beamte engagiert sich bei den hessischen Grünen und bei dem Verein Polizei Grün. Der strebt nach eigener Aussage eine »tolerante, kritikfähige und rechtsstaatliche Bürgerpolizei« an. Mit Kirsch sprach Sebastian Bähr über die »NSU 2.0«-Drohbriefe, die auf ein rechtes Netzwerk in der hessischen Polizei hindeuten.
Solche Schreiben mit Behördenwissen erhielten bisher die Linken-Politikerinnen Janine Wissler, Martina Renner und Anne Helm, die Kabarettistin İdil Baydar, die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz, die Journalistinnen Maybrit Illner und Hengameh Yaghoobifarah sowie der NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler.
Foto: privat

Warum passiert das in dem aktuellen Fall nicht?
Ich wüsste es selber gerne und kann nur mutmaßen. Von Fahrlässigkeit bis Vorsatz kann ich mir alles vorstellen.

Wie leicht kann man auf Rechner zugreifen, in denen Kollegen eingeloggt sind?
Sobald jemand eingeloggt ist, erfolgt keine weitere Prüfung. Wenn der Computer unbeaufsichtigt und der Bildschirm nicht gesperrt ist, könnte jeder Kollege da eine Abfrage tätigen. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass der betroffene Kollege beispielsweise von einer Streife angerufen wurde, die die Überprüfung einer bestimmten Person angefordert hatte.

Wie sind Ihre Erfahrungen: Wie weit ist rechtes Denken unter Kollegen verbreitet?
Nach einer Studie vom hessischen Innenministerium teilen etwa 1,6 Prozent der befragten Polizisten klar rechtes Gedankengut, also etwa 270 von 17 000 Beamten. Das deckt sich auch mit meinen Erfahrungen, ich erlebe im Arbeitskontext das gesamte politische Spektrum. Die Rechtsextremen sind eine Minderheit – aber sie reicht aus, um das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden massiv zu erschüttern und tiefe Eingriffe in die Selbstbestimmung von Bürgern vorzunehmen.

Die Studie war nicht unumstritten. Geht das Problem etwa mit rassistischen Vorurteilen nicht über die 1,6 Prozent hinaus?
Wenn wir uns auf den allgemein vorhandenen Alltagsrassismus mit all seinen Vorurteilen beziehen – ja, der ist natürlich auch in der Polizei da. Die Institution agiert schließlich nicht im luftleeren Raum. Breite Strukturen, die politische Gegner einschüchtern, sehe ich aber nicht.

Dennoch stehen nun rechte Netzwerke in der hessischen Polizei zur Debatte. Wie könnten diese aussehen?
Da gibt es vermutlich eine Dienststelle oder auch eine Dienstgruppe, in der entsprechende Kollegen die informelle Autorität haben. Die geben den Ton an und bringen rechtsextremes Gedankengut hinein. Die Möglichkeiten ihres Agierens haben dann sicher auch etwas mit der Führung zu tun, also der Frage, wie rigoros ein Chef gegen rechte Parolen vorgeht. Über die Dienststellen hinaus kann man auch davon ausgehen, dass entsprechende Kollegen in sozialen Medien leicht politisch gleichgesinnte Beamte auffinden können. Ich will nicht ausschließen, dass es rechte Chatgruppen gibt, die sich über ganz Hessen vernetzen. Die Ermittlungen zu Nordkreuz und Uniter zeigen ja zudem, dass es auch regionale oder bundesweite Strukturen gibt. Aber ich denke nicht, dass die hessische Polizei durch solch ein Netzwerk unterwandert ist.

Nehmen Sie viel Unterstützung der hessischen Beamten für die AfD wahr?
Natürlich gibt es immer mal wieder sympathisierende Äußerungen, die AfD stand bundesweit bei Umfragen schließlich lange Zeit bei um die 15 Prozent. Es würde mich wundern, wenn da nicht auch viele Polizisten und Beamten unter den Wählern wären. Im Alltag erlebe ich großteils Kollegen, die die AfD komplett ablehnen, kenne aber auch welche, die für sie aktiv sind. Mit einem Kollegen etwa, der die »Junge Freiheit« liest und auch AfD-Sympathisant ist, kann ich mich aber trotzdem hervorragend politisch unterhalten.

Teile der AfD werden vom Verfassungsschutz beobachtet, die »Junge Freiheit« wird der Strömung der »Neuen Rechten« zugeordnet, die zentrale Verfassungsnormen infrage stellt. Wo überschreitet für Sie ein Kollege eine Linie?
Die Grenze kann man klar ziehen. Kollegen muss man dann melden, wenn sie in Äußerungen oder Taten den Boden des Grundgesetzes verlassen. Also etwa, wenn rassistische Beleidigungen fallen oder Kontrollen einzig aufgrund der Hautfarbe durchgeführt werden. Bei der reinen Geisteshaltung wird es schwieriger. Das Wirken in der AfD ist nach momentaner Gesetzeslage noch eine normale politische Bestätigung. Würde ich alleine deswegen jemanden melden, würde man mir sagen, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe. Die Grenze zum Denunziantentum ist schnell überschritten, so was führt zu einem beschissenen Klima. Wir müssen uns bei unserer Arbeit aufeinander verlassen können. Ich glaube auch generell, das man nicht alles durch Strafen regeln kann. Manchmal kann es auch helfen, Überzeugungsarbeit zu leisten und jemanden zum Nachdenken zu bringen.

Die Drohschreiben gingen vor allem an Frauen. Können Sie sich erklären, wieso?
Wenn man sich mit den Werten in der Szene auseinandersetzt, überrascht das nicht. Erfolgreiche, selbstständige und selbstbewusste Frauen, die dazu noch andere Grundwerte vertreten, sind Rechtsextremen ein Dorn im Auge.

Haben Sie Kollegen mit solchen Geschlechterbildern?
Ich kenne zumindest keine. Polizist sein ist dennoch natürlich ein Beruf, wo »männliche Werte« wie Stärke und selbstbewusstes Auftreten im Vordergrund stehen. Da fallen auch Mal ein Macho-Spruch oder anzügliche Kommentare. Nichts im Sinne von »Frauen an den Herd«, aber eben eine gesellschaftsfähige Form von Sexismus.

Seit 2015, mit der Ankunft zahlreicher Schutzsuchender in Deutschland, hatte sich der Diskurs im Land merklich nach rechts verschoben. Wie wurden die vergangenen Jahre unter hessischen Polizisten wahrgenommen?
Ohne die Hintergründe bewerten zu wollen: Viele Kollegen sind in dieser Zeit aus den Uniformstiefeln schlichtweg nicht mehr herausgekommen. Wir waren sozusagen eine besonders betroffene Berufsgruppe. Da gab es schon das Gefühl von Kontrollverlust. Es wirkte zeitweise, als ob Politiker nicht mehr wissen, was sie machen und wie es denen »unten« eigentlich geht. Das trägt dazu bei, dass sich Weltbilder verschieben.

Könnten sich Polizisten mit rechten Weltbildern durch dieses Gefühl von Kontrollverlust zum eigenmächtigen Handeln ermutigt gefühlt sehen?
Ja, mit Sicherheit, auch wenn ich es nicht in Zahlen beziffern kann. Der ein oder andere Kollege hat sich wahrscheinlich genau in diesem Angst-Fahrwasser radikalisiert und wollte zur Tat schreiten.

Wie gehen diese Beamten mit dem Widerspruch zwischen offiziellem Auftrag und tatsächlichem Denken und Handeln um? Was vermuten Sie?
Ich denke, man kann es über den Prozess der Gruppenbildung erklären. Ab einem Punkt fühlen sich diese Polizisten nicht mehr primär der Gruppe der Polizisten zugehörig, sondern eben der Gemeinschaft der Rechtsextremisten. Alle anderen, also auch die eigenen Kollegen, werden dann als außenstehend wahrgenommen. Der Beamte, der dann die freie demokratische Grundordnung verteidigt, wird so zum Feind.

Wie könnte man gegen mögliche Netzwerke von solchen Polizisten vorgehen?
Ich habe über unsere allgemeinen Forderungen hinaus kein Patentrezept, wie man diese Gruppen aufspürt und enttarnt. Diese Leute kennen ja die Ermittlungsansätze und wissen, wie sie sich bewegen können, ohne aufzufallen. Vielleicht habe ich auch schon mit den einen oder anderen überzeugten Rassisten gesprochen, ohne es zu merken. Einfach, weil er wusste, dass er bei jemandem wie mir mit seinen Äußerungen vorsichtig sein muss. Eine Garantie gibt es nicht.

Kann der von Innenminister Beuth eingesetzte Sonderermittler etwas bewirken?
Nein. Ein Sonderermittler steht vor den gleichen Problemen wie die Arbeitsgruppe mit den 60 Beamten, die bereits seit Jahren in dem Komplex ermittelt. Dazu kommt seine Einsetzung viel zu spät, er kann nichts mehr bewegen. Der Schritt entspringt viel mehr einem Aktionismus, genauso wie der Rücktritt des Landespolizeipräsidenten Udo Münch. Sein Abgang war sicher nicht freiwillig. Es bräuchte viel mehr langfristige Strukturreformen.

Welche?
Eine neutrale Ermittlungsinstanz außerhalb der Polizei wäre ein wichtiger Schritt. Bei stichhaltigen Verdachtsmomenten müsste man zudem konsequenter gegen Kollegen vorgehen. Um allgemein rassistische Vorurteile abzubauen, würde es meiner Meinung nach ebenfalls helfen, auch die Psyche von Kollegen mit professioneller Betreuung stärker zu stützen und bezüglich des Zusammenhangs von Kriminalitätsphänomenen und Lebensumständen mehr Aufklärung zu leisten. Die Verknüpfung im Kopf von Tat und Herkunftskultur muss sich lösen.

Von den zwei großen Polizeigewerkschaften ist erstaunlich wenig zu hören bezüglich der Drohschreiben. Hat Sie das überrascht?
Bei der Deutschen Polzeigewerkschaft mit ihren rechten Ansichten erstaunt mich gar nichts mehr. Bei der Gewerkschaft der Polizei bin ich dagegen schon schockiert, in welche Richtung sie sich in den vergangenen Wochen entwickelt hat. Obwohl sie im DGB organisiert ist, bewegt auch sie sich nun immer wieder in konservativen Fahrwassern. Von denen hätte ich mir dabei bezüglich der Drohschreiben mehr Rückgrat gewünscht. Konkret: Eine klare Distanzierung von rechtsextremen Gedankengut und die Forderung nach lückenloser Aufklärung.

Werden Sie selbst für Ihre Tätigkeit bei Polizei Grün bedroht?
Nein. Ich wurde bisher weder ausgegrenzt noch gemobbt oder bedroht. Ich habe aber mitbekommen, dass andere kritische Kollegen vereinzelt Nachteile erlitten haben. Nach meinem Eindruck kommt es hierbei immer darauf an, wie Kritik getätigt wird. Aber ich will nicht ausschließen, dass es Kollegen auch nur aufgrund ihrer Haltung trifft. Wenn man in die falsche Einheit gerät, kann das passieren. Wer in die Herde nicht reinpasst, wird ausgegrenzt.

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