Sie wollen ihre Jobs zurück

Weil Europa in der Coronakrise keine Kleidung mehr will, verlieren Näherinnen in Indien ihre Arbeit

  • Natalie Mayroth, Mumbai
  • Lesedauer: 7 Min.

Geetha wirkt müde. Die 30-Jährige ist seit über einem Monat im Streik. Nicht etwa für kürzere Arbeitszeiten oder mehr Lohn: Sie möchte ihren Job zurück. Deshalb sitzt sie mit ihren Kolleginnen mit Abstand und Maske auf dem Boden vor den Toren ihres ehemaligen Arbeitsplatzes. »Ich bin sehr besorgt«, sagt sie. »Weil wir keine Arbeit mehr haben, ist alles unsicher.« Geetha trägt eine gelbe Kurta, eine Art Hemdkleid. Um den Hals hängt ein rotes Band mit ihrem Arbeitsausweis. Ihre langen Haare hat sie zum Zopf geflochten. Es ist schwül-heiß und regnet immer mal zwischendurch. Doch Geetha will nicht aufgeben.

Bis vor Kurzem noch waren sie und 1200 weitere Frauen in der Textilfabrik ECC-2 in der Kleinstadt Srirangapatna im südindischen Bundesstaat Karnataka angestellt. Es handelt sich um einen Zulieferbetrieb des schwedischen Textilhändlers H&M. Die Beschäftigten stellen unter anderem Shirts und Tops her. Ende Mai jedoch wurden über Nacht die Maschinen herausgeräumt. Eine Woche später erhielten die Angestellten ihre Kündigung. Die Begründung: »unsichere Marktbedingungen«. Doch das will die vor allem weibliche Belegschaft nicht hinnehmen. Denn damit drohen sie ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Vielen geht es ähnlich wie Geetha, die Alleinverdienerin in einer dreiköpfigen Familie ist und ohne den Vater ihrer Kinder lebt.

Die 30-Jährige verdiente um die 8866 Rupien im Monat, das sind gut 100 Euro und entspricht dem örtlichen Mindestlohn. Nun haben die Frauen von Srirangapatna eine Art Abfindung mit dem letzten halben Lohn bekommen. »Mit dem Entlassungslohn kann ich meine Familie nicht versorgen. Wie soll ich mit dem halben Gehalt die Miete und Lebensmittel bezahlen«, fragt sie. Dabei hatten die Arbeiterinnen erst im Mai ihre Arbeit wieder aufnehmen können nach dem Lockdown, der die Ausbreitung des Coronavirus in Indien begrenzen sollte.

Für die Frauen kam die Kündigung wie aus dem Nichts. Laut der Gewerkschaft Garment and Textile Workers Union (GATWU) handelt es sich um illegale Entlassungen, da sie den Gesetzen widersprechen. »Wir protestieren gegen diese Vorgehensweise, um unsere Arbeit wieder zu bekommen«, sagt Geetha. ECC-2 am Standort Srirangapatna ist eine von etwa 20 Textilfabriken, die die Firma Gokaldas Exports betreibt. Sie ist die Einzige, die momentan vor der Schließung steht. Aber sie ist auch die Einzige, in der die Belegschaft gewerkschaftlich gut organisiert ist, sagt der Gewerkschafter Gautam Mody vom Dachverband New Trade Union Initiative (NTUI).

Nicht nur in vielen Teilen Europas kehrt nach der Pandemie langsam wieder Normalität ein. Auch in Indien kehren die Betriebe langsam zur Produktion zurück. Doch Unternehmen wie Gokaldas Exports registrieren die Folgen der vergangenen Wochen und Monate. Die Geschäfte in den Einkaufsstraßen waren weltweit über Wochen geschlossen, Modeunternehmen blieben auf ihren Kollektionen sitzen. Sie stornierten Bestellungen bei ihren Textilzulieferern oder holten bereits hergestellte Ware nicht mehr ab.

Auf eine Anfrage äußert H&M schriftlich, dass sich »der Rückgang der Kundennachfrage unweigerlich auf das Produktionsniveau auswirkt, insbesondere, wenn sich ein Land über einen langen Zeitraum hinweg in einem Lockdown befand, wie dies bei Indien der Fall ist.« Die Bestellungen bei Gokaldas Exports befänden sich jedoch auf einem ähnlichen Niveau wie im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Ebenso hieß es in der Erklärung, dass bereits produzierte Waren sowie in Produktion befindliche Waren bezahlt werden, wenn sie innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens geliefert werden.

Trotz der Bemühungen der Gewerkschaft ist weiterhin keine Lösung zwischen den Beschäftigten, Vertretern von Gokaldas Export, H&M und den lokalen Behörden in Sicht, um den Standort zu retten. Warum Gokaldas die Entscheidung gefällt hat, den Standort ECC-2 zu schließen, ist unklar. Gewerkschafter Gautam Mody beklagt, dass H&M nicht genug getan habe, um den Konflikt zu lösen, und vermutet eine Zerschlagung ihrer gewerkschaftlichen Aktivitäten.

Auch in anderen Textilstandorten wie im westindischen Gujarat gab es Proteste, die aber nicht so friedlich verliefen wie in Srirangapatna. Hier waren es Wanderarbeiter, die nach Hause wollten. In Srirangapatna sind im Gegensatz zu anderen Textilzentren vor allem Frauen aus der Umgebung angestellt. Viele von ihnen sind seit 2010 dort tätig und produzieren seit 2014 vor allem für H&M. Da beide, Gokaldas Exports und H&M, im vergangenen Jahr hohe Gewinne gemacht haben, will Gautam Mody die Ausrede nicht gelten lassen, in der Pandemie den Arbeiterinnen nicht entgegenkommen zu können. Zudem habe H&M Verpflichtungen durch Rahmenabkommen wie mit dem globalen Gewerkschaftsverband IndustriAll.

Die Gesamtlage ist weiterhin angespannt. Allein im Bundesstaat Karnataka droht 40 Prozent aller Beschäftigen im Textilbereich der Verlust ihrer Anstellung - wenn sie sie nicht schon verloren haben. Denn nicht nur die Nachfrage aus dem Ausland hat nachgelassen, auch in Indien waren die Läden dicht und die Kaufkraft ist stark zurückgegangen. Der Chefberater des Verbands der Bekleidungshersteller Indiens (CMAI) Rahul Mehta schätzt, dass in Indien bis zu 10 Millionen Arbeitsplätze in der Textil- und Bekleidungsindustrie gefährdet sind, wenn nicht von außen geholfen werde. Sein Verband arbeitet mit den Händlern und Einkäufern zusammen, um die Unterbrechungen durch Auftragsstornierungen klein zu halten.

Mit den Lockerungen der Corona-Beschränkungen und der Wiedereröffnung von Geschäften habe sich die Situation bis zu einem gewissen Grad verbessert, sagt Mehta, aber die Nachfrage auf dem indischen Markt werde wohl erst im Herbst wieder richtig anlaufen. Dennoch sei die Brache zweifellos hart getroffen.

Während Großbetriebe wie Gokaldas Exports sich für Standortschließungen entschieden haben, fehlen andernorts die Arbeitskräfte, die während des Lockdowns in ihre Heimatdörfer abgewandert sind. So erging es Ronit Shah*, der im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh für einen großen europäischen Moderiesen Damen- und Kinderbekleidung herstellt. Schon seit den späten 1990ern produziert Shah Saisonware. Zwar dauerte es, aber er konnte mit seinem Abnehmer einen Kompromiss finden. Shah kann die angefangene Produktion fortführen. »Das war ein bedeutendes Zugeständnis«, erklärt er am Telefon. Die Branche sei schnell. »Was einmal zwei Monate liegenbleibt, passt nicht mehr in die Saison, wenn es die Geschäfte in Europa erreicht«, sagt Ronit Shah.

Die Bearbeitung von anderen Bestellungen wurde vorerst gestoppt. »Die ungeschnittenen Stoffe werden aufbewahrt und später mit einem anderen Design umgesetzt«, sagt er mit der Zuversicht, dass sich sein Kunde, den er öffentlich nicht nennen möchte, von der Coronakrise erholen wird. Shah hat von anderen in der Branche gehört, dass sich vor allem kleinere Unternehmen und Einkäufer*innen aus den USA nicht mehr melden würden, was gravierende Folgen für alle Angestellten und die Unternehmen hat. Letzteren fehle das Einkommen und damit auch das Geld, die Arbeiter*innen zu bezahlen.

Unternehmer Shah, der wieder in kleinem Umfang produziert, wurde vom Lockdown in der Hochsaison überrascht. Ohne Arbeit wollten die meisten seiner 2300 Arbeiter*innen nicht im Industrievorort bleiben, wo sie gewöhnlich in kleinen Wohnungen zusammenleben, um Kosten zu sparen. Shah zahlte ihnen nach eigener Aussage 70 Prozent ihres letzten Lohns. Für mehr hätten seine Mittel nicht gereicht. Nach wochenlangem Stillstand ist seine Belegschaft auf unter 300 geschrumpft. Viele seiner Angestellten haben sich zu Fuß auf den Weg zu ihren Familien gemacht.

Wann sich Indiens Wirtschaft wieder richtig öffnen kann, ist unklar, denn die Coronainfektionen steigen weiter. Sie haben die Marke von einer Million überschritten. Auch Bangladesch, das wirtschaftlich stärker als Indien vom Export von Textilen abhängt, geriet unter Druck und öffnete Textilfabriken noch früher als Indien wieder. Der Geschäftsführer der Einzelhandelsberatung Technopak Arvind Singhal schätzt, dass die schwierige Situation mindestens noch ein Jahr andauern werde.

Singhal sieht aber auch Potenzial für Indien, den eigenen Markt zu stärken und weniger abhängig vom Ausland zu werden. »Der Vorteil ist, dass die gesamte Wertschöpfungskette vom Rohstoff bis zur Arbeitskraft in Indien gedeckt werden kann und Textilien in einer Vielzahl von Branchen benötigt werden.« Singhal verweist darauf, dass Firmen ihr Sortiment in Corona-Zeiten auf Schutzkleidung und Masken umgestellt haben. Dadurch konnten sie schon früh die Produktionen in kleinen Umfang wiederbeleben.

Ob im nordindischen Uttar Pradesh oder im südindischen Karnataka, für viele Inder und Inderinnen wird es nicht einfach, diese Zeit zu überbrücken. Die Coronakrise hat sie vor eine noch nie da gewesene Herausforderung gestellt. In Indien wird das erste Mal seit 1979 die Wirtschaft schrumpfen. Für Geetha jedoch ist das erst einmal zweitrangig. Für sie zählt, wie sie ihre Kinder und sich selbst durchbringen kann.

*Name von der Reaktion geändert.

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