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Tormaschine im Ex-Hotspot
Atalanta Bergamo begeistert mit offensivem Fußball nicht nur die von der Pandemie geplagte Lombardei
Als die »Geliebte Italiens« bezeichnete kürzlich Ex-Nationaltrainer Marcello Lippi die Mannschaft von Atalanta Bergamo. Der nach der mythischen Jägerin Atalante benannte Klub trägt bereits seit Jahren den Beinamen »die Göttin«. Jetzt also kommt noch die »Geliebte« dazu. Dabei ist Weltmeistertrainer Lippi eher für nüchterne Analysen bekannt. Nun aber hob er in seiner Eloge den offensiven Stil Bergamos heraus. 94 Tore schoss Atalanta bereits an den 33 Spieltagen der Serie A. Ergebnisse wie 7:0 (gegen den AC Turin), 6:2 (letzte Woche gegen Brescia) oder 5:0 (gegen den einst so großen AC Mailand) stehen zu Buche.
Bergamos Trainer Gianpiero Gasperini erinnert sich lieber an ein knappes 4:3. Das hatte Anfang März gegen den FC Valencia den Viertelfinaleinzug in der Champions League bedeutet - und unterschied sich dabei so angenehm vom klassischen 1:0 italienischer Ergebnisminimalisten. Gasperini hat auch die Spieler dafür. Der bullige Mittelstürmer Duvan Zapata, der filigrane Techniker Josip Ilicic und der pfeilschnelle Luis Muriel sorgten zu dritt allein für 49 Treffer. Perfekt eingesetzt wird das Trio vom trickreichen, zuweilen gar genialen Spielmacher Alejandro »Papu« Gomez. In Gasperinis totalem Offensivsystem kommen aber auch Mittelfeld- und Abwehrspieler wie der in Bergamo zum deutschen Nationalspieler gereifte Robin Gosens und der Kroate Mario Pasalic (je 9 Treffer) zu vielen erfolgreichen Abschlüssen.
Marcello Lippi feiert aber nicht nur den ansehnlichen Stil, sondern nicht minder die Art und Weise, in der die Manager der Atalanta in den vergangenen Jahren den klassischen Mittelklasseverein in einen Champions-League-Viertelfinalisten umbauten: »Sie haben seit 30 Jahren den gleichen Präsidenten, Antonio Percassi. Sein Sohn Luca spielte einst im Klub und ist jetzt Manager. Und über viele Jahre hatten sie mit Mino Favini den größten Entdecker italienischer Talente«, meinte Lippi. Favini, genannt der »Magier«, starb 2019 mit 83 Jahren. Kurz vorher verriet er noch die ihm wichtigsten Kriterien bei der Talentsuche: »Es kommt auf den Umgang mit dem Ball an. Wie nimmt er ihn schon in jungen Jahren mit Fuß, Bein, Brust und Kopf an? Und wie klar ist er im Denken? Du musst Fußball spielen, denken - und vorausdenken können.« Mit Offensivprediger Gasperini hat der schon länger für seine Nachwuchsarbeit gerühmte Klub endlich auch den Vollender aller Pläne auf der Trainerbank gefunden.
Der entscheidenden Schritt gelang dann im vergangenen Jahr, als zahlreiche von Spitzenklubs umworbene Leistungsträger im Team gehalten werden konnten. In früheren Jahren strich man gern die Ablösesummen ein: Für 20,5 Millionen Euro ließ man Roberto Gagliardini zu Inter Mailand ziehen, je 24 Millionen bekam man für Andrea Conti und Franck Jessie (beide AC Mailand), 21 Millionen für Bryan Cristante (AS Rom). Deshalb brauchte Gasperini, seit vier Jahren in Bergamo, danach aber auch immer zwei Monate, um wieder neue Spieler in sein System einzubauen. Weil das Gerüst im letzten Sommer aber erhalten blieb, steht der Klub plötzlich in der Tabelle auch vor Vereinen, für die er bisher lediglich der Zulieferer war.
In Bergamo löst das großen Stolz aus. Am Höhepunkt der Pandemie hielten sich Atalantas Ultras wie Aronne Mazzoleni, der mit seiner Schwester Sara auch den Kiosk gleich gegenüber des Stadions betreibt, mit dieser Form von Galgenhumor aufrecht: »Das Virus ist doch nur gekommen, um die Atalanta im besten Jahr ihrer Geschichte noch aufzuhalten«, erzählt Mazzoleni grinsend dem »nd«.
Den Höhenflug vor der Pandemie setzt der Klub aber nach dem Wiedereinstieg in den Spielbetrieb fort. Keines der neun Spiele seit Juni wurde verloren, zwischenzeitlich gar der zweite Tabellenplatz erreicht. Tabellenführer Juventus holte geradeso ein Remis, nur begünstigt durch zwei Handelfmeter. Ein zweites Unentschieden erreichte am Samstag Hellas Verona. Das Ausgleichstor für Verona schoss mit Matteo Pessina ausgerechnet einer, der zum umfangreichen Talentreservoire der Atalanta gehört und an den Ligakonkurrenten nur ausgeliehen ist.
Der Erfolg ist Frucht jahrelanger Aufbauarbeit. Einen letzten Motivationskick gibt aber auch die Pandemie, die in der Lombardei mit bislang knapp 17 000 fast die Hälfte aller Todesfälle von ganz Italien verzeichnen musste. »Es waren schockierende Monate hier in Bergamo. Wir hätten niemals gedacht, dass nach dem Valencia-Spiel die Pandemie hier derart explodieren würde. Wir hielten immer Kontakt mit den Spielern. Sie trainierten zwar individuell, aber niemand von ihnen verließ Bergamo. Und jetzt wollen wir der Stadt und der Bevölkerung beim Weg zurück in die Normalität helfen«, sagt Coach Gasperini, der selbst an Covid-19 erkrankt war. »Bergamo verdient jetzt eine Freude, die über das übliche Maß hinausgeht.«
Genau die liefern die Mannen in schwarzblau. Deshalb gelten sie nicht nur für Marcello Lippi als »Geliebte Italiens«. Und in der Champions League kommt es bald zum Duell der Gegensätze: Der Mittelklasseverein mit der eigenen Talentfabrik gegen die Bezahlgroßmeister von Paris St. Germain.
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