Werbung

Lesen Sie privat Kommentare im Internet?

Die Graphic Novel »Über Spanien lacht die Sonne« ist eine pointierte Chronik moderner Arbeitsverhältnisse

  • Sven Jachmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Onlinekommentar-Bereiche sind die vollgeschmierten Klotüren des Internets, und irgendjemand muss die Scheiße ja wegmachen. In Kathrin Klingners neuer Graphic Novel »Über Spanien lacht die Sonne« beginnt die Handlung im Sommer 2015 mit dem Bewerbungsgespräch der Hauptfigur Kitty, einer mit fünf Schwarzklecksen angedeuteten Häsin. Es geht um einen Agenturjob als Moderatorin für Onlinekommentare. Erste Frage des Chefs in spe: »Lesen Sie denn privat Kommentare im Internet?« Dann wird ihr eine Aufgabe gestellt: »Ich lese Ihnen ein paar Kommentare vor, und Sie sagen mir einfach, was Sie davon halten.« Kitty bekommt jedenfalls den Job. In dieser Exposition bleiben wir von Hate Speech noch verschont, doch später werden sich Abgründe auftun, man wird auf reichhaltige rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Aussagen stoßen.

Die Comic-Künstlerin Klingner kann auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen: Sie selbst arbeitet seit 2013 im Nebenjob als Onlinekommentar-Moderatorin. Der Ernst des Themas und der Lage ließe womöglich einen analytischen Comic-Essay erwarten, aber Klingner setzt lieber auf eine effektivere Methode: Humor. Der reduktionistische schwarz-weiße Zeichenstil lenkt zwangsläufig den Blick aufs Detail, den Ausdruck der Figuren, ihre Gespräche inner- und außerhalb des Büros, ihren Umgang mit dem Gepöbel der User - das erinnert, was das Dehnen der Zeit und das Spiel mit der Monotonie der Bilder betrifft, im Ansatz an eine Dogma-Version des großen französischen Comic-Workaholics Lewis Trondheim. Klingner geht es allerdings noch galliger an. »Migrationswahnsinn. Putin. Ukraine. Schuldkult.« Bei der Lektüre trinkt Kitty Kaffee und isst eine Stulle.

In einer anderen Passage ist in den oberen Panelabschnitten ein extrem rechter Kommentar voller Bürgerkriegsfantasien zu lesen, die unteren Panels zeigen Kitty in der U-Bahn und beim Einkaufen. Das konterkariert doppeldeutig die Paranoia des geifernden Users: Der harmlose Alltag nimmt seinen Lauf, und gleichzeitig könnte jeder Smartphone-Nutzer, dem Kitty draußen begegnet, ein anonymer rechter Troll sein. Man mag darüber spekulieren, was die tägliche Konfrontation mit solch ungezügeltem Hass mit den digitalen Reinigungskräften anstellt. Offenbar nicht viel. Die Figuren tingeln unspektakulär durch ihre Freizeit, machen Hausarbeit, bringen die Kinder zur Schule, schlagen die Zeit am Rechner tot. Eine, ein Ex-Kneipier, besäuft sich oft, wird dann sentimental und versucht, die Barfrau zu betatschen. Alle Figuren sind im Guten wie im Schlechten erschreckend normal und »eigentlich die falsche Besetzung, um die Welt vor der Verrohung aus dem Internet zu retten«, sagt Klingner in einem Interview. Der Comic ist weniger eine Untersuchung der Motive der Hassgroßmäuler im Netz als vielmehr eine pointierte Chronik moderner Arbeitsverhältnisse unter den Bedingungen digitaler Zügellosigkeit.

Kathrin Klingner: »Über Spanien lacht die Sonne«. Reprodukt, br., 128 S., 20 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -