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Oligarchie von EU-Gnaden
In Bulgarien fordert die Protestbewegung den Rücktritt der Regierung. An den Machtverhältnissen wird das wenig ändern
Zum zweiten Mal in sechs Jahren ist Bulgarien von einer landesweiten Protestwelle erfasst worden. Dabei betonen Politiker in der EU gerne den demokratischen Nachholbedarf der bulgarischen Bevölkerung, weil das »totalitäre kommunistische Erbe« noch nachwirke. Doch mehrere Zehntausend Menschen belehren Brüssel derzeit eines Besseren und protestieren am Donnerstag bereits den 22. Tag in Folge gegen die national-konservative Regierung. Der vorläufige Höhepunkt war am Mittwoch erreicht, als die Demonstranten zahlreiche Hauptstraßen der Hauptstadt Sofia blockierten und den Verkehr im weiteren Stadtzentrum zum Erliegen brachten.
Doch die national-konservative Regierung schließt einen Rücktritt beharrlich aus. »Es stehen außerordentlich schwierige Monate bevor«, kündigte Bojko Borissow an. »Nur unsere Verantwortung hält uns an der Macht.« Offensichtlich will der Ministerpräsident die Proteste aussitzen und die aufgebrachten Bürger durch wirtschaftliche Maßnahmen besänftigen. Am Montag beschloss die Regierung ein weiteres Corona-Hilfspaket im Umfang von rund 590 Millionen Euro. Als Antwort auf die Wirtschaftskrise waren bereits soziale und wirtschaftliche Nothilfemaßnahmen im Wert von 2,3 Milliarden Euro verabschiedet worden, wobei ein Großteil der Summe staatliche Bürgschaften und Kredite ausmachen. Nur 250 Millionen Euro sind für Gesundheit, Inneres und Verteidigung vorgesehen - ein staatliches Konjunkturprogramm sieht anders aus.
Angesichts der sich abzeichnenden Rezession sind die Maßnahmen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach Angaben der bulgarischen Gewerkschaften werden von den insgesamt 2,3 Millionen Arbeitern und Angestellten im Land vermutlich 300 000 bis Ende des Jahres ihre Jobs verlieren. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts »Trend« glauben nur 25 Prozent, ihr Arbeitsplatz sei sicher, knapp 50 Prozent erwarten, dass infolge der Corona-Krise ihre Einkommen sinken werden. Dabei verdiente nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat 2019 ein bulgarischer Arbeiter ohne Kinder gerade einmal 600 Euro pro Monat, der Tiefstwert in der EU.
Zu der ökonomischen Krise kommt zudem eine politische: Die Durchsuchung der Arbeitsräume von zwei hochrangigen Mitarbeitern des Präsidialamtes - ein Auslöser der Proteste - ist nicht der einzige verfassungsrechtlich fragwürdige Vorgang. Genauso erregt die Bevölkerung die schamlose Bereicherung der Herrschenden. Jüngstes Beispiel: Ahmet Dogan, schwerreicher Geschäftsmann und langjähriger Vorsitzender der Partei »Bewegung für Rechte und Freiheiten«, die vor allem die Interessen der türkischen Bulgaren vertritt, ließ sich an der bulgarischen Schwarzmeerküste auf öffentlichem Boden eine Luxusvilla bauen. Dabei sind solcherlei Bauprojekte illegal.
Die wiederkehrenden Korruptionsskandale in Bulgarien sind ein Ausdruck des oligarchischen Systems, das sich während der kapitalistischen Transformation etabliert hat. In den 1990er Jahren profitierten einzelne Geschäftsleute von den Privatisierungsprozessen, indem sie sich unter zwielichtigen Methoden lukrative Staatsbetriebe aneigneten. Heute kontrolliert eine kleine Anzahl mächtiger Unternehmer ganze Wirtschaftszweige wie den Tourismussektor, die Immobilien- und Medienbranche oder das Glücksspiel. Ihre einflussreiche Position sichern die Oligarchen ab, indem sie politische Parteien - unabhängig der politischen Couleur - finanzieren oder wie Dogan selber in die Politik gehen. Doch die Oligarchie sitzt nicht nur innenpolitisch fest im Sattel, auch die EU stützt dieses System. Weder erhob sie eine rechtsstaatliche Untersuchung des Privatisierungsprozesses zur Beitrittsbedingung noch unternimmt der Staatenbund wirksame Schritte zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage.
Es ist dieses oligarchische System gegen das die Menschen in Bulgarien protestieren - und nicht zum ersten Mal. Von 2013 bis 2014 wurde das Land fast ein ganzes Jahr von einer Protestwelle erfasst, die erst Borissow und danach den Sozialisten Plamen Orescharski aus dem Amt jagte. Genau wie heute forderten die Demonstranten mehr direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten, eine stärkere Kontrolle der politischen und wirtschaftlichen Elite und eine sozialpolitische Wende, geschehen ist seitdem kaum etwas.
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