Außerhalb des Elfenbeinturms

In »Das blinde Licht« offeriert Benjamin Labatut eine andere Wissenschaftsgeschichte

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Der 1980 in Rotterdam geborene, in den Haag und Buenos Aires aufgewachsene und derzeit in Santiago de Chile lebende Benjamin Labatut, der auch schon lesend auf der Buchmesse in Frankfurt am Main zu Gast war, scheint ein literarischer Wunderknabe zu sein.

Sein Erzählband »Das blinde Licht - Irrfahrten der Wissenschaft« ist noch nicht einmal bei Anagrama, etwas salopp ausgedrückt: dem spanischen Pendant von Suhrkamp, erschienen, da kommt das Buch schon auf Deutsch heraus - natürlich bei Suhrkamp. Darüber hinaus auf Englisch, Niederländisch, Italienisch, Portugiesisch und Französisch. Der Trend, Buchrechte international abzusetzen und vielversprechende Titel gleichzeitig global aufzulegen, nimmt zu. Und das sogar, wenn, wie im Fall Labatut, der Autor eher noch unbekannt ist. Wobei die vier Texte dieses Bandes - eine eigenartige Mischung aus literarischer Erzählung und wissenschaftsgeschichtlichem Essay - tatsächlich verstörend gut sind.

Labatut bietet pointiert Anekdoten aus der Wissenschaftsgeschichte, vornehmlich des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Er zeichnet kleine, gestochen scharfe Porträts von Physikern wie Erwin Schrödinger oder Werner Heisenberg, die sich um die Quantenmechanik stritten. Es geht aber auch um den Mathematiker Alexander Grothendiek oder Karl Schwarzschild, der eine Theorie zur Existenz »schwarzer Löcher« vorlegte. Mitunter sind die Erzählungen sehr düster. Schon der Auftakt des Buches über die Entdeckung des Farbstoffs »Preußischblau« 1709 durch Johann Jacob Diesbach und den Alchemisten Johann Conrad Dippel ist eine Reise in die finsteren Abgründe europäischer Geschichte, die von der Malerei des 18. Jahrhunderts bis zum »Nationalsozialismus« reicht, da aus dem Farbstoff später Cyanid und schließlich das in Auschwitz eingesetzte Zyklon B hergestellt wurde.

Labatut mischt seine wissenschaftsgeschichtlichen Essays mit fiktionalen Elementen, wobei er sich nicht wirklich in die Karten schauen lässt, wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion genau verläuft. Die sprachlich sehr dichten, stellenweise beinahe schon wagnerianisch anmutenden Texte balancieren am schmalen Grat zwischen Genie, Wahnsinn und drohendem Untergang der jeweiligen Akteure.

Und natürlich geht es nicht nur um die genialen Männer - Frauen kommen übrigens nur am Rande vor, verrichten Hausarbeit oder fungieren als sexuelle und romantische Projektionsflächen -, sondern auch um die historischen Verhältnisse, in denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen wurden. Das ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchweg der Krieg.

Karl Schwarzschilds Hypothese eines »schwarzen Lochs« als unendlicher Schlund, der alles verschlingt, entstand beispielsweise während des Ersten Weltkriegs in einer Frontbaracke, über die Giftgaswolken zogen. Ebenso wird Grothendiecks Flucht aus einem Internierungslager der Vichy-Regierung, dem mit Hitler kollaborierenden Regime in Südfrankreich, mit dessen wegweisenden mathematischen Arbeiten zur algebraischen Geometrie und seiner späteren radikalen Hinwendung zur Politik und Abkehr von der Wissenschaft in einen Zusammenhang gebracht. Auf einer Friedensdemonstration in Avignon schlug der Mathematiker übrigens gar zwei Polizisten k.o., erfahren wir. Wissenschaftliche Erkenntnis wird als Teil eines sozialen Prozesses verstanden und explizit zur politischen Tat - außerhalb des Elfenbeinturms.

Den größten Raum, rund 100 Seiten, räumt Labatut der Auseinandersetzung um die Quantenmechanik ein, die er als kleines Opus heftig widerstreitender Geister inszeniert. Er schildert hier eindrucksvoll sowohl Schrödingers Kuraufenthalt in der Schweiz wie Heisenbergs Reise nach Helgoland, reflektiert historischen Vorlesungen und bahnbrechenden Konferenzen.

So spannend wurde Wissenschaftsgeschichte bisher noch nicht in Literatur verpackt.

Benjamin Labatut: »Das blinde Licht - Irrfahrten der Wissenschaft«, Suhrkamp, 187 S., geb., 22 €.

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