Über Nacht obdachlos

Vielen US-Bürgern droht die Zwangsräumung. Manche hoffen auf eine Mieterbewegung

  • Tamara Kamatovic
  • Lesedauer: 5 Min.

»Wir sind gerade bei einer Tankstelle und wissen nicht, wo wir hin sollen«, sagt Bianca Dupree. Sie und ihr vierjähriger Sohn T.J. sind vor kurzem obdachlos geworden und fragen sich, wo sie die Nacht verbringen werden. Bis Anfang April arbeitete Bianca in einer Nudelfabrik in Crystal, Minnesota. Am 3. April verkündete die Fabriksleitung, dass 19 Angestellte Covid-19-Symptome aufwiesen, und stellte Bianca und ihre Kollegen vor die Wahl: Entweder weiter arbeiten und ihr Leben riskieren oder freiwillig in unbezahlten Urlaub gehen. Nun kämpft Bianca darum, ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Als Fabriksarbeiterin hatte sie einen Stundenlohn von zwölf Dollar und kam so auf einen Wochenlohn von circa 500 Dollar. Jetzt bezieht Bianca wöchentlich 128 Dollar Arbeitslosengeld. Mit dem zusätzlichen 600 Dollar pro Woche, die seit Ende März vom US-Kongress anlässlich des »Cares Act« Arbeitslosen zur Verfügung gestellt wurden, reichte es zum Überleben. Doch Ende Juli ist die Hilfe ausgelaufen. Bianca kann nun ihre 1200 Dollar Miete nicht mehr zahlen, geschweige denn sich und ihrem Sohn ein menschenwürdiges Leben finanzieren.

Anfang August zog Bianca freiwillig aus ihrer Wohnung, um einer Zwangsräumung zuvorzukommen. Diese Woche rief sie bei einem Obdachlosenzentrum in Minneapolis, der Hauptstadt Minnesotas, an, aber da sie keine Unterstützung aus Wohlfahrtsprogrammen erhält, hätte sie 73 Dollar pro Tag für eine Unterkunft bezahlen müssen. Ein Hotel käme ihr »günstiger«, wurde ihr erklärt. Nun weiß Bianca nicht, wie es weitergehen soll. Sie schämt sich für den Verlust ihres Zuhauses und die Arbeitslosigkeit. Während sie erzählt, unterbricht sie kurz: »Gott segne dich, danke.« Ein Fremder spendete ihr zehn Dollar für das Tanken.

Um die 30 Millionen US-Amerikaner beziehen zurzeit Arbeitslosengeld - dies ist die höchste Zahl an Arbeitslosen seit der »Great Depression« in den 1930er. Für viele bedeuteten die wöchentlichen 600 Dollar den Unterschied zwischen drohender Armut und Obdachlosigkeit. Experten rechnen damit, dass immer mehr Menschen langfristig auf staatliche Unterstützung angewiesen sein werden. Insofern ist Biancas Geschichte kein Einzelfall. Über 40 Millionen US-Amerikanern droht die Zwangsräumung.

Kristen Seery kommt aus Südflorida und schloss 2017 ihr Medizinstudium ab. Sie verlor noch vor der Coronakrise ihren Turnusplatz am Rhode Island Hospital und damit einen festgelegten Karriereweg. Danach betreute sie Hunde von Freunden und anderen Besitzern gegen Bezahlung und schmiedete Pläne, ihre Ausbildung als Medizinerin wieder aufzunehmen.

Durch die Pandemie verlor Kristen nun auch diese Einkommensquelle und damit auch die Hoffnung, die finanziellen Mittel aufzubringen, ihre Ausbildung zu beenden. Sie bezieht wöchentlich 160 Dollar Arbeitslosengeld. Die 600 Dollar bedeuteten für sie Freiheit: Freiheit für ihre Karriereplanung und die Freiheit, eine neue Wohnung bezahlen zu können. Denn auch Kristen droht die Zwangsräumung. Schon seit einem Jahr ist sie in einen Rechtsstreit mit der Hausverwaltung in Pawtucket, Rhode Island verstrickt, bestätigt Hausverwalterin, Jennifer Bogan. Im Juli verlor Kristen schließlich einen Rechtsstreit mit der Hausverwaltung. Nun muss sie aus ihrer Wohnung ausziehen.

Kristen führt ihre derzeitige Wohnunsicherheit auf die Korruption in Rhode Island zurück und sieht das Rechtssystem wie auch die politischen Verantwortlichen als mitschuldig an ihrem Fall. Ihre Antwort darauf ist Aktivismus. Kristen versucht, ihre Nachbarn zu einer politischen Gruppe gegen die Hausverwaltung zu vereinen. So hängte sie Poster mit Informationen zu einem Mieterverein im Haus auf. Diese wurden immer wieder von der Hausverwaltung entfernt. Kristen wurde schließlich mit dem Vorwurf des Vandalismus konfrontiert. Jetzt hängt ein Transparent der Mieterorganisation »Tenant Network Rhode Island« aus ihrem Fenster.

Kristen sieht optimistisch in die Zukunft. Sie bekam von der Organisation »Home Safe« die Zusage auf finanzielle Unterstützung für eine Kaution für ihre zukünftige Wohnung. »Wenn man wütend genug ist, kann man was ändern«, sagt Kristen. »So wie die Black-Lives-Matter-Demonstrant*innen, werden Mieter*innen sich auch politisch organisieren.«

Auch für Michael Kinnucan bedeuteten die wöchentlich 600 Dollar, dass er seine 1100 Dollar Miete in New York zahlen konnte. Jetzt ist diese Unterstützung weggefallen. Michael arbeitete in einer kleinen Firma, die seit 40 Jahren Gewerkschaften in New York City rechtlich und organisatorisch beraten hat. Die Firma musste aber mit der Pandemie vorübergehend schließen, denn den Gewerkschaften fehlt das Geld, Beratung einzuholen. Sie warten, dass die Normalität zurückkehrt.

Michael, ein aktives Mitglied der linken Organisation »Democratic Socialists of America«, glaubt jedoch nicht an die baldige Rückkehr der Normalität. »Langfristig denkt niemand mehr.« Michael bekommt wöchentlich 200 Dollar Arbeitslosengeld. »Ich habe Glück: Ich habe studiert, ich bin ledig und habe keine Kinder, für die ich aufkommen muss.« Aber die Situation sei trotzdem deprimierend. »Ich lebe von meinem Ersparten.«

Michael weiß auch nicht, wie es weitergehen wird. »Wir werden aufgrund der Coronakrise immer aufgefordert, Opfer zu bringen. Im Juni ist mein Neffe geboren. Ich durfte ihn wegen des Lockdowns noch nicht kennenlernen.« Diese Opferbereitschaft, sagt er, sei »völlig sinnlos«. »Es ist vollkommen klar, dass die jetzige Regierung nichts machen wird.« Aber die Aussicht, dass der Demokrat Joe Biden im November die Präsidentschaftswahlen gegen Amtsinhaber Donald Trump gewinnen könnte, macht ihn auch nicht besonders glücklich: »Unter ihm wird sich auch nichts ändern, ähnlich wie bei Obama, der viele seiner Wahlversprechen nicht gehalten hat. Das hat die Rechte gestärkt.« Pessimistisch werden will Michael dennoch nicht: »Vielleicht werden die Menschen politisch aktiv, wenn sie verstehen, dass niemand einen Plan hat und dass wir ihnen völlig egal sind. Vielleicht ist das die Hoffnung?«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.