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Das Agrobusiness röstet Amazonien
Häuptling Álvaro Tukano zur Situation der indigenen Völker in Brasilien und zu Covid-19
Wie beschreiben Sie die Situation der indigenen Völker in Brasilien unter der Regierung Jair Bolsonaro?
Allgemein gesehen hat Brasilien eine Geschichte, die für indigene Völker nicht angenehm ist. Wir haben seit dem Tag, an dem der »Weiße« in dieses Land trat, den Frieden verloren. Und dieses Land wurde unter der Gier der Eindringlinge auseinandergerissen. Bis heute stehen wir Vorurteilen gegenüber, und die brasilianischen Behörden verwässern unsere Rechte. Die Realität ist, dass die »Weißen« uns seit 1500 ausgeraubt haben, und sie stehlen bis jetzt weiter.
Er gilt als einer der wichtigsten politischen Vordenker der Indigenenbewegung in Brasilien: Álvaro Fernandes Sampaio Tukano, Häuptling des rund 260.000 Hektar großen Indianerreservats Balaio am Oberlauf des Rio Negro im Bundesstaat Amazonas.
Seit Jahrzehnten setzt sich der 67-Jährige für die Rechte indigener Völker sowie die Verteidigung ihrer Territorien und Traditionen ein. In den 70er Jahren rief er die indigene Bewegung in Brasilien mit ins Leben und gehörte 1984 zu den Gründern des Dachverbands der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COICA). Mit Álvaro Tukano sprachen die Soziologin Márcia Gomes de Oliveira und der Journalist Norbert Suchanek.
Wie beispielsweise die Tausenden illegalen Goldgräber, die gerade einige Indianerreservate, etwa die Gebiete der Yanomami und der Munduruku, heimsuchen.
Die Brasilianer wissen, wie die reale Situation in diesem Land ist. Weil unsere Rechte von der Regierung nicht respektiert und umgesetzt werden, befinden wir uns in einer bedauerlichen Situation mit Invasionen von Landräubern, Holzunternehmen, Goldsuchern, bei einer fehlenden Justiz und der Ermordung unserer Anführer. Und dies alles geschieht im Namen der Entwicklung Brasiliens und der Ausbeutung unserer Ressourcen für die Welt. Es wäre gut, wenn man uns Ureinwohner dieses Landes respektieren würde, statt uns ständig im Namen des Fortschritts zu manipulieren. Dies ist sehr schlecht für uns.
Hat die Covid-19-Pandemie die Lage der indigenen Völker weiter verschlechtert?
Wir haben es längst satt, in dieser Welt der Ungerechtigkeit zu leben. Und jetzt kommt noch das Coronavirus hinzu. Ohne Unterstützung fehlen uns die Mindestbedingungen, um dieser Pandemie begegnen zu können. Nichtsdestoweniger versuchen unsere weisen Heiler, mit ihrem traditionellen Wissen die Krankheit zu bekämpfen. So überlebte die Mehrheit der an dem Coronavirus erkrankten Indigenen in meinem Territorium der Tukanos. Sie entkamen dem Tod mithilfe von Schamanismus und Heilpflanzen aus dem Regenwald.
Traurige Tatsache ist aber auch, dass Covid-19 bereits 140 Reservate heimgesucht hat und Hunderte Indigene an dem Virus gestorben sind.
Es starben vor allem die Indigenen, die in öffentlichen Krankenhäusern behandelt wurden. Sie starben, weil sie nicht an unsere überlieferten Heilmethoden und Medikamente glaubten und das traditionelle Wissen verloren haben. Durch den Verlust von überliefertem Wissen sind wir abhängig vom staatlichen Gesundheitssystem, und dieses ist teuer und ineffizient.
Andere Völker wie die Xavante in Mato Grosso und die Kayapó in Pará haben wegen Covid-19 bereits wichtige Anführer und Häuptlinge verloren.
Das ist leider wahr. Wir haben den großen Paulinho Paiakan verloren, den Verteidiger der indigenen Völker Amazoniens. Er war ein langjähriger Mitstreiter, ein großer Stern der indigenen Politik und der Kayapó. Im Süden Brasiliens verloren wir Häuptling Nelson Xangrê, der einer der ersten bekannten Anführer der Kaingang war und ebenfalls all die Jahre an meiner Seite für die indigenen Rechte kämpfte. Häuptlinge des Xavante-Volkes starben ebenfalls an Covid-19.
Das hat auch damit zu tun, dass die indigene Welt durch die immense Ausweitung des Agrobusiness immer kleiner wird. Es dringt mit seinen Pestiziden weiter voran und »röstet« den Cerrado (Savannen im Inland Südostbrasiliens mit einer Fläche von etwa zwei Millionen Quadratkilometer, d. Red.), Amazonien und den Rest des Landes. Die Verseuchung geschieht Tag und Nacht. Wir stehen leider vor dieser traurigen Situation.
Was ist nötig, um die Lage der Indigenen in Brasilien zu verbessern?
Es ist notwendig, mehr Widerstand gegen die Unterdrückung zu leisten, unter der wir leiden. Beispielsweise durch die Agrarunternehmen, die die Zukunft Brasiliens, insbesondere die Zukunft der indigenen Völker, bedrohen. Die internationalen Organisationen müssen auch erkennen, wo die tatsächlichen Schwierigkeiten liegen. Viele Länder der »Ersten Welt« wie Deutschland haben Brasilien wirtschaftliche Unterstützung gegeben, um den Amazonas und seine Völker zu erhalten und zu verteidigen. Die mehr als eine Milliarde Dollar, die bei der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES bereitliegen, erreichen nicht die Indigenen, die den Amazonas Tag und Nacht verteidigen.
Bereits im November 1980 klagte ich beim 4. Russell-Tribunal in Rotterdam die brasilianische Militärdiktatur und die Salesianer Missionare in Amazonien des Ethnozids an, was mich teuer zu stehen kam. 1990 dann reiste ich als Repräsentant des Dachverbands COICA durch Europa, um ein Abkommen mit europäischen Städten zur finanziellen Unterstützung der Verteidigung des Amazonaswaldes mit zu unterzeichnen.Sie meinen das »Manifest europäischer Städte zum Bündnis mit den Indianervölkern Amazoniens«, dessen 30-jähriges Bestehen in diesem Jahr gefeiert wird.
Ja. Viele Nichtregierungsorganisationen haben sich die zum Schutz Amazoniens bestimmten Gelder angeeignet. Statt den indigenen Völkern zugutezukommen, verblieben die Gelder in den Büros der großen NGOs. Es ist also nicht nur die brasilianische Regierung, die im Weg steht. Es gibt auch Personen in den Führungsetagen der NGOs, die uns behindern, boykottieren und unsere Projekte ablehnen. Aber das interessiert uns im Grunde nicht. Wir werden weitermachen.
Wir wollen weder Almosen, Süßigkeiten noch Glasperlen oder Spiegel. Es ist Respekt, den wir von den Nichtindigenen wollen, Gleichheit im Dialog und vor dem Gesetz. Die brasilianische Gesellschaft muss die indigenen Völker unterstützen und unsere Rechte respektieren.Gibt es Unterstützung von den Behörden?
Brasilien hat 314 indigene Völker, die 272 verschiedene Sprachen sprechen. Wir sind weniger als eine Million überlebende Indigene in Brasilien. Uns zur Seite stand bisher die staatliche Indianerbehörde Funai, die im Grunde gute Mitarbeiter hat, um unsere Territorien zu demarkieren und zu schützen. Doch wenn die Funai so wie heute keine Unterstützung von der Staatsregierung hat, dann ist dies schlimm für uns. Deshalb erleben wir so viele Invasionen von Holzfällern, Goldgräbern und anderen.
Was wünschen Sie sich von der heranwachsenden indigenen Generation?
Ich möchte den neuen indigenen Anführern in Brasilien sagen: Wir dürfen niemals unsere Herkunft vergessen und dürfen uns niemals für unsere Herkunft schämen. Wir müssen unsere Traditionen wiederbeleben, unsere Ethik aufrechterhalten. Behaltet die Einfachheit bei, die seit jeher der Adel unserer Häuptlinge ist. Und: Lasst euch von niemandem manipulieren!
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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