• Berlin
  • Polizei- und Justizskandal

Neukölln-Komplex weitet sich aus

Der Skandal um Rassismus und Rechtsextremismus bei der Polizei erhält täglich eine neue Dimension

  • Claudia Krieg, Martin Kröger und Marie Frank
  • Lesedauer: 4 Min.

Jenny Fleischer ist sich sicher: »Die neuen Erkenntnisse erhöhen den Druck auf ein mögliches Rückholverfahren für meinen Mandanten«, erklärt die Anwältin am Donnerstag gegenüber »nd«. Fleischer vertritt das Opfer eines mutmaßlich rassistischen Angriffs auf dem S-Bahnhof Karlshorst im Jahr 2017. Neun Männer hatten einen 26-Jährigen laut Zeugenaussagen beschimpft und krankenhausreif geschlagen. Daran war, wenn auch außer Dienst, der Beamte Stefan K. beteiligt. Gegen ihn läuft seit Januar 2020 ein Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung. Zwei weitere Männer sind angeklagt, insgesamt sollen neun Personen an dem brutalen Angriff beteiligt gewesen sein.

Am Mittwoch wurde durch antifaschistische Recherchegruppen bekannt, dass K. bis 2016 zur Ermittlungsgruppe »Rex« gehörte, die in der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln ermittelte. Weil in seine Dienstzeit nicht nur schwere rechte Angriffe, sondern auch der bis heute unaufgeklärte Mord an Burak Bektas sowie der Mord an Luke Holland fallen, bekommt das Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung gegen den Polizisten nun nicht in Bezug auf den Neukölln-Komplex neue Brisanz, sondern auch im Fall des jungen Afghanen selbst. Dieser wurde nämlich im März 2020 als »Straftäter« in einem Sammelcharter nach Kabul in Afghanistan abgeschoben.

»Mein Mandant ist nach dem Überfall abgestürzt«, formuliert seine Anwältin. Der an sich gut integrierte Flüchtling – »gesettelt« sagt Fleischer –, der in einem Kreuzberger Kinderladen als Erzieher beschäftigt war, sei nach dem traumatischen Erlebnis vollkommen aus der Bahn geraten. »Er hatte chronische Schmerzen, konnte nicht mehr arbeiten, wurde obdachlos«, berichtet Fleischer. Er habe viel Marihuana konsumiert, bekam Anzeigen wegen Bagatelldelikten. Fleischer hat die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Stefan K. erwirkt, das die Politische Abteilung der Staatsanwaltschaft zunächst eingestellt hatte. Begründung: das Opfer sei nicht mehr in Deutschland. »Mein Mandant konnte mit dem Trauma nicht mehr in Deutschland leben«, sagt Fleischer. Er habe das Land für eine Weile verlassen müssen, sei dann aber zurückgekehrt. Stefan K. blieb derweil weiter im Dienst.

Jetzt steht der Beamte wieder vor Gericht – Zeugenaussagen gegen K., so Fleischer, gäben dafür mehr als genug Anlass. Nun müsse allerdings erreicht werden, dass auch das Opfer am Prozess teilnehmen kann.

»Er wollte immer, dass der Überfall aufgeklärt wird und der Täter nicht mehr als Polizist arbeiten darf«, sagt seine Anwältin. Zudem würden ihrem Mandanten Verfahrensrechte verwehrt: »Er hat ein Recht auf Anwesenheit, ein Fragerecht, er muss auch in der Frage nach dem Schmerzensgeld persönlich vernommen werden«, betont sie. In Kabul sei er vollkommen ohne Unterstützung.

Als Skandal bezeichnet den Fall auch der Flüchtlingsrat Berlin-Brandenburg: »Es ist inakzeptabel, dass Berlin sich an Abschiebungen in das Bürgerkriegsland Afghanistan beteiligt. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um traumatisierte und kranke Menschen handelt«, kritisiert Sprecher Georg Classen den rot-rot-grünen Senat. Die Abschiebung von »Jamil«, so sein Pseudonym, sei rechtswidrig, da das Verfahren gegen die rechten Schläger noch läuft. »Jamil muss sofort nach Berlin zurückgeholt werden, auch um am Strafverfahren als Nebenkläger teilnehmen können. Er muss einen Ausgleich nach dem Opferentschädigungsgesetz und ein sicheres Bleiberecht erhalten«, so Classen weiter.
Der Fall schlägt im Zusammenhang mit den zahlreichen Verstrickungen von Polizei, Landeskriminalamt und der Berliner Staatsanwaltschaft – dem sogenannten Neukölln-Komplex – ein weiteres Kapitel auf.

Auch Innensenator Andreas Geisel (SPD) nahm am Donnerstag am Rande eines Besuches der Polizeiakademie Stellung zu den Vorwürfen. Demnach sei der Beamte bereits in der vergangenen Legislaturperiode, also noch in der Zeit seines Amtsvorgängers, aus der Abteilung gegen Rechtsextremismus abgelöst worden. »Dass es 2017 zu einem gewalttätigen Übergriff auf einen Afghanen gekommen ist, ist für einen Polizisten untragbar.« Deshalb sei es richtig, so der Innensenator, jetzt diese Gerichtsverhandlung zu führen. Der SPD-Politiker betonte zudem: »Das ist nicht die Polizei von heute.«

Doch auch bei der Polizei von heute gibt es immer wieder Skandale. So beanstandete die Berliner Datenschutzbeauftragte, Maja Smoltzczyk, am Donnerstag die Verweigerung der Berliner Polizei an der Aufklärung von fragwürdigen Abfragen in Polizeidatenbanken in Zusammenhang mit rechtsextremen Morddrohungen. Nach Drohungen gegen einen Antifaschisten, in dessen Hausflur »9 mm für« und dahinter sein Name gesprüht worden war, hatte die Person Beschwerde eingereicht. Die Polizei bestätigte daraufhin, dass es polizeiliche Zugriffe auf die Daten zweier von rechten Bedrohungen Betroffener gegeben hatte. »Lediglich einen Teil dieser Zugriffe konnte die Polizei nachvollziehbar dienstlich begründen«, so Smoltzczyk.

Trotz mehrfacher Forderungen und Mahnschreiben der Datenschutzbehörde, die Abfragen zu begründen, verweigerten die Beamt*innen jegliche Information – obwohl sie dazu verpflichtet sind. Smoltzczyk spricht angesichts dieser »hartnäckigen Weigerung ihrer Mitwirkung«, von einem »bedenklichen Rechtsverständnis« einer Polizeibehörde, »die derzeit aufgrund der sich häufenden Fälle von unrechtmäßigen Abfragen und Kontakten zum rechtsextremen Spektrum in Fokus der Öffentlichkeit« stehe. Dies müsse auch politisch thematisiert werden, fordert die Datenschutzbeauftragte.

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