Zur Freude der Weisen

RB Leipzig zeigt mit Halbfinaleinzug in der Champions League neue Reife.

  • Ullrich Kroemer, Lissabon
  • Lesedauer: 4 Min.

Jorge Valdano gefiel, was er gesehen hatte. Der argentinische Weltmeister von 1986, der sich nach seiner aktiven Laufbahn später als Publizist und Leiter einer Madrider Fußball-Universität einen Namen gemacht hat, gilt als einer der großen Philosophen des Fußballs: als Verfechter des schönen Spiels. Nach dem 2:1-Triumph von RB Leipzig gegen Atlético Madrid im Viertelfinale der Champions League stieg Valdano die Treppen des nahezu leeren Estádio José Alvalade im Norden Lissabons empor, strahlte über das ganze Gesicht und streckte zu den deutschen Journalisten gewandt den Daumen nach oben. Wie der Überraschungssieger aus Leipzig das so erfahrene, abgezockte, schwer zu bezwingende Atlético aus dem Miniturnier geworfen hatte, beeindruckte nicht nur den »Fußballweisen« Valdano. Auch die mit Metaphern nicht sparenden spanischen Zeitungen schrieben: »Leipzig war ein Bienenschwarm. Es war eine deutsche Sinfonie« (»Marca«). Und »El Mundo Deportivo« dichtete: »Nagelsmann schreibt seine Doktorarbeit in Lissabon.«

Damit ist die Bedeutung, die dieser Erfolg für RB und den deutschen Fußball hat, schon ganz gut umrissen. Erstmals seit 2013 zog neben dem FC Bayern ein weiterer deutscher Klub ins Halbfinale der »Königsklasse« ein. Diesen Coup hatte den Leipzigern keiner zugetraut. Schon gar nicht nach den zuletzt in der Bundesliga eher zähen Darbietungen, als RB zum Beispiel gegen Borussia Dortmund am vorletzten Spieltag chancenlos war.

Doch gegen Atlético schien es so, als münde alles, was das Team unter Trainer Julian Nagelsmann im vergangenen Jahr gelernt und zuvor unter Ralf Rangnick verinnerlicht hatte, in diesem einen Spiel. Die Partie war die beste unter Nagelsmann, weil seine Mannschaft erstmals gegen einen großen Gegner über 90 Minuten hinweg wie ein Spitzenteam auftrat und die Symbiose von dominantem Ballbesitzspiel, Kontersicherung und aggressivem Gegenpressing-Spiel nahezu perfekt gelang. Spiele wie das gegen Atlético muss Nagelsmann im Kopf gehabt haben, als er 2019 seinen Job bei RB antrat und im Trainingslager seine Spielidee umriss. Insofern war das 2:1 gegen das Spitzenteam aus Madrid eine Bestätigung seines Weges, das Leipziger System um mehr Spielkultur zu erweitern. Ein Meisterstück von Nagelsmann.

Dass Timo Werner nicht mehr für RB Leipzig spielt, war gar nicht weiter zu bemerken. Im Gegenteil: RB agierte ohne den Fixpunkt im Sturm sogar variabler, kombinationsfreudiger und mit viel individueller Qualität auf ungeahnt hohem Niveau. Nagelsmanns Entscheidung, nur mit einem echten Stürmer (Yussuf Poulsen) und dazu zwei hängenden Spitzen Dani Olmo - der das 1:0 abgebrüht per Kopf erzielte (50.), und Christopher Nkunku - zu agieren, ging voll auf. Auch ohne Timo Werner ist RB also torgefährlich genug.

Zudem überraschte Nagelsmann die Madrilenen mit einer ausgeklügelten Switch-Taktik. Je nachdem, ob man mit oder ohne Ball agierte, formierten die Leipziger ihre Grundordnung um. Beim Pressing rückte Konrad Laimer von der Außenbahn ins defensive Mittelfeld, damit Marcel Sabitzer in der offensiven Dreierreihe aggressiv die Gegner unter Druck setzen konnte. »Davon haben wir uns den nötigen Zugriff erhofft, ebenso aber auch die nötigen Räume in der Spieleröffnung - die haben wir in den meisten Fällen auch gefunden«, sagte Nagelsmann zufrieden. Stolz sei er auf das Team, ließ aber auch seinen eigenen Anteil am Erfolg nicht unerwähnt: »Manchmal ist die Art und Weise, wie die Idee umgesetzt wird, auch eine Auszeichnung für das Trainerteam. Heute haben wir das im Kollektiv gut gelöst.«

Der eingewechselte Siegtorschütze Tyler Adams (88.) konnte indes kaum glauben, dass er den entscheidenden Treffer beigesteuert hatte, und beschrieb das Erlebnis als »surreal«. Kapitän Yussuf Poulsen, der vor sieben Jahren zum damaligen Drittligisten RB gekommen war, ordnete den schon jetzt legendären Sieg bei der zweiten Champions-League-Teilnahme als Reifeprozess ein. »Wir sind als Mannschaft zwei Jahre weiter, besser, größer, variabler. Dazu machen die neuen Spieler diejenigen besser, die schon länger hier sind«, sagte der Däne.

Der Sieg des Underdogs befeuerte auch die Begeisterung der Lissaboner. Die in diesen Tagen wegen der ausbleibenden Touristen vergleichsweise leere Stadt scherte sich bislang nicht sonderlich um das Turnier ohne Fans. Durch die Corona-Einschränkungen und die fehlenden Tourismuseinnahmen fürchten viele Portugiesen um ihre Existenz. Doch nach dem 2:1 war dieses »Leipsisch« auch Gesprächsthema bei den Frauen und Männern, die in den Gassen der Altstadt Alfama ihr Morgenschwätzchen hielten. Zwar bleibt es heikel, wenn die Fußballbranche ohne ihre Seele - die Fans - weitermacht, um den Betrieb irgendwie aufrechtzuerhalten. Doch ein Match wie das von RB befeuert natürlich das gesamte Turnier.

Im Halbfinale treffen die Leipziger am Dienstag auf Paris St. Germain, ein weiterer »Brocken«, wie Nagelsmann sagte. Durch das Duell gegen seinen deutschen Trainerkollegen Thomas Tuchel, der ihn einst in Augsburg für den Trainerberuf entdeckte, bekommt das ohnehin faszinierende Spiel gegen die Superstars Kylian Mbappé und Neymar noch eine weitere spezielle Note. »Wir stehen im Halbfinale, da ist es selbsterklärend, dass wir auch ins Finale kommen wollen«, kündigte Nagelsmann an. Der neue RB-Fan Jorge Valdano wird dann als TV-Experte wieder dabei sein.

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