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Kein fairer Boxkampf
Die Innenexperten der rot-rot-grünen Koalition über den Zustand und die Zukunft der Berliner Polizei
Herr Zimmermann, Herr Schrader, haben Sie noch einmal über Polizeigewalt bei der Black-Lives-Matter-Demo Anfang Juni geredet? Sie waren sich ja uneinig, ob es diese Gewalt überhaupt gegeben hat.
Frank Zimmermann (SPD): Die Aussagen verschiedener Videos sind unterschiedlich. Nach meinem Kenntnisstand hat die Polizei zurückhaltend und moderat reagiert. Sie wurde beschimpft und angegriffen. Dann gab es Festnahmen und Widerstandshandlungen, was natürlich schlimm aussieht. Aber in bestimmten Situationen muss die Polizei auch Gewalt anwenden. Das ist dann auch kein fairer Boxkampf über neun Runden, sondern die Polizei muss die Situation bereinigen.
Niklas Schrader (Linke): Ich habe die Bildausschnitte auch gesehen. Es haben sich auch Betroffene bei mir gemeldet. Unterm Strich gibt es so deutliche Hinweise darauf, dass es Polizeigewalt gegeben hat. Das Problem ist, dass wir keine neutrale Instanz haben, die das wirklich aufklären kann. Die Polizei überprüft sich an dieser Stelle selbst. Dafür brauchen wir Institutionen wie den Polizeibeauftragten.
Können Sie vielleicht vermitteln, Herr Lux?
Benedikt Lux (Grüne): (lacht) Klar. Ich stimme zu, dass es auch rechtmäßig Polizeigewalt gibt. Der politische Schaden ist trotzdem groß, weil man Bilder produziert, die unverständlich sind. Die Polizei muss immer darauf achten, dass sie selbst bei rechtmäßigem Handeln das Vertrauen der Bevölkerung nicht verspielt. Interessant finde ich eine Anzeige, die eine Polizistin gegen einen anderen Polizisten gefertigt hat. Das ist schon ein Zeichen dafür, dass die Polizei erkennt, dass sie über das Ziel hinausgeschossen ist.
Kommt jetzt auch die Racial-Profiling-Studie, die Seehofer nicht machen wollte?
Alle: Ja.
Schrader: Es gibt Grundbedingungen, die erfüllt sein müssen. Sie soll unabhängig und wissenschaftlich sein und nicht von der Behörde selbst ausgeführt werden. Die Formulierung des Untersuchungsauftrages müssen wir auch noch diskutieren. Geht es um Einstellungen oder versuchen wir auch Polizeipraktiken zu untersuchen? Dass sie im Grundsatz kommen soll, da sind wir uns einig.
Noch in dieser Legislaturperiode?
Zimmermann: Den Auftrag werden wir noch geben.
Lux: Es gibt noch wesentliche Details, denen wir uns nähern müssen. Wir warten auf einen Vorschlag aus der Innenverwaltung.
Zimmermann: Es sollte auch keine Vorfeststellung geben, dass es einen strukturellen Rassismus in der Polizei gibt. Es gibt sicherlich eine Reihe von Fällen, mehr als man an einer Hand abzählen kann. Aber das rechtfertigt diesen Vorwurf nicht. Da ist die Berliner Polizei mit einem Migrationsanteil von 30 Prozent schon drüber hinweg.
Schrader: Ich würde das etwas anders formulieren. Dass wir ein strukturelles Problem haben, sieht man an der Regelmäßigkeit. Eine Regelmäßigkeit von Fällen rassistischen Polizeihandelns, die bekannt werden. Eine Regelmäßigkeit von Fällen, in denen Beamtinnen oder Beamte rechtsextremistisch aktiv oder sogar straffällig geworden sind. Alle paar Monate haben wir so einen Fall. Es sieht sehr danach aus, dass wir ein strukturelles Problem haben. Wir wissen nur nicht, wie groß es ist. Dafür brauchen wir mehr Forschung. Sogar die GdP, die Gewerkschaft der Polizei, ist dafür offen.
Lux: Die Debatte um Rassismus sollten wir generell enttabuisieren. Jeder Mensch hat Vorurteile, Abneigungen gegenüber bestimmten Gruppen. Eine schlimme Form ist der Rassismus. Deswegen halte ich es auch für keinen schlimmen Befund, dass die Berliner Polizei strukturell rassistisch sei. Die Frage, wie man selbstkritisch damit umgeht, sollte im Vordergrund stehen. Welche Lösung haben wir, damit wir gleichberechtigter und diverser gemeinsam leben können? Eine Studie hilft dabei.
Haben Sie in der Sommerpause denn noch etwas zur Abschaffung der Polizei beigetragen?
Lux: Im Gegenteil! Wir haben die Polizei und auch die Feuerwehr gestärkt. Die Bezahlung haben wir erhöht, die Beförderungsmöglichkeiten, die Ausrüstung. Was wir an Investitionen für Polizei und Feuerwehr locker gemacht haben, ist sehenswert. Unser Grundsatz war immer, dass wir für gute Arbeitsbedingungen sorgen, aber auch anspruchsvoll gegenüber der Polizei sind.
Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, hat gesagt, dass man Polizist*innen in Berlin nicht mehr ins »rot-rot-grüne Messer« laufen lassen soll.
Zimmermann: Das ist wohlfeile Rhetorik von der Spitze der Deutschen Polizeigewerkschaft. Andere Gewerkschaften sind da differenzierter. Mit der Gewerkschaft der Polizei und dem Bund Deutscher Kriminalbeamter sind wir im Dialog. Da gibt es bei den Beauftragten auch hinsichtlich unserer Gesetzgebungsvorhaben eine Offenheit. Es wird konstruktive Kritik geübt, um die Dinge voranzubringen.
Sind Sie trotzdem genervt von den immergleichen Vorwürfen?
Lux: Also ich finde es bemerkenswert, dass es in Berlin keine Wechselstimmung gibt, sondern die rot-rot-grüne Regierung in den Umfragen seit viereinhalb Jahren stabile Mehrheiten einfährt. Und wo ist die Achillesferse? Innere Sicherheit. Es war von Anfang an so angelegt, dass man uns dort treiben will. Kein Innenausschuss vergeht, in dem nicht auf die Linkskoalition geschimpft wird und der Zustand der Stadt schlechtgeredet wird.
Schrader: Was Rainer Wendt zu unserer Politik sagt, ist mir herzlich egal. Die schrillen Töne, die regelmäßig auch von der CDU kommen, haben sich mittlerweile weit von der Realität entfernt. Das ist nur noch Ritual. Und damit ist es auch politisch nicht mehr so relevant. Es ist richtig, dass wir die Polizei personell besser aufgestellt haben. Das ist nicht nur im Interesse der Sicherheit, sondern auch der Bürgerrechte. Wir fahren eine klare bürgerrechtliche Linie. Grundrechte dürfen nicht immer weiter eingeschränkt und polizeiliche Befugnisse nicht immer weiter ausgeweitet werden. Debatten dazu haben wir bisher immer bestanden.
Zimmermann: Zumal wir vor der Sommerpause ausgewogene Gesetzentwürfe eingebracht haben, die - zugegeben - sorgfältig beraten werden mussten. Das hat sich aber gelohnt. Wir haben geliefert. Im Herbst werden wir in den parlamentarischen Beratungen alles abarbeiten und dann bald beschließen. ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz, Anm. der Red.), Versammlungsrecht und den Polizeibeauftragten.
Also alles ein Erfolg?
Zimmermann: Es sind ausgewogene Gesetze, die wir vorlegen. Beide Seiten, das Sicherheitsinteresse und das Individualinteresse, bringen wir in eine Balance. Da haben wir im Detail gerungen. Dass wir auch nicht in jedem Punkt immer einig waren, ist bekannt.
Lux: Ob es ein Erfolg ist, müssen die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Die haben nächstes Jahr die Möglichkeit dazu. Wir haben sicher den Grundstein für Erfolge gelegt. Die Latte lag aber auch niedrig. Gemessen an dem, was vorher gelaufen ist, haben wir einen Riesenerfolg erzielt. Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht. Bei der Feuerwehr, der Polizei, der Generalstaatsanwaltschaft und auch beim Verfassungsschutz. Ich hoffe sehr, dass sich das in Zukunft bemerkbar macht.
Schrader: Wir hatten aber auch grundlegende Konflikte. Das ist eine Eigenschaft der rot-rot-grünen Koalition, die sich nicht nur in der Innenpolitik gezeigt hat: Am Ende kommen wir trotz Konflikten zu einem guten Ergebnis.
Machen wir doch eine kurze Runde mit je einem Erfolg und einer Baustelle in der Innenpolitik...
Lux: Ein Erfolg ist die Stärkung der Grund- und Bürgerinnenrechte und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Polizei. Baustelle: Verkehrssicherheit.
Schrader: Erfolge sind unsere bürgerrechtlichen Projekte. Der Polizeibeauftragte und große Teile des ASOG. Eine der großen Baustellen ist die immer noch nicht aufgeklärte rechte Terrorserie in Neukölln. Dort steht immer noch der Verdacht im Raum, dass Polizeikräfte möglicherweise die Aufklärung verhindert haben.
Zimmermann: Die Fokussierung auf sehr gefährliche Deliktsgruppen war erfolgreich. Und auch bei der Organisierten Kriminalität, wo wir zusammen mit der Staatsanwaltschaft, Polizei, Ordnungsämtern und weiteren Ordnungsbehörden vorgehen. Nicht gelungen ist aber eine Lösung bei der Rigaer Straße.
Apropos Rigaer Straße, Herr Zimmermann. Ihr Parteikollege Tom Schreiber arbeitet sich an der »Rigaer 94« ab. Er hat auf Twitter bei einem Polizeieinsatz dem Projekt Lebewohl gesagt. Ist das Ihre Strategie?
Zimmermann: Tom Schreiber ist sehr engagiert, aber beschreibt in dem Punkt keine Beschlusslage. Ziel ist, zusammen mit dem Eigentümer zu einer Lösung zu kommen. Ich plädiere dafür, dass man mit denen, die da sind, verhandelt. Ich habe den Eindruck, Herr Bernau (Markus Bernau, der vorgebliche Eigentümeranwalt das Hauses Rigaer Straße 94, Anm. der Red.) und der Verwalter sind die legitimen Vertreter. Das andere sind natürlich die unerlässlichen repressiven Maßnahmen. Dort gibt es schlimme Angriffe auf Polizisten, die wir nicht tolerieren können.
Lux: Lieber eine Verhandlung zu viel als eine zu wenig. Ich teile auch ausdrücklich die Aussage, dass Angriffe auf die Polizei unter keinen Umständen zu dulden sind. Es ist unsäglich, wie von vermeintlich linken Leuten Polizisten angegriffen werden. Die spannende Frage ist eigentlich, wie wir es schaffen, Freiräume zu erhalten: Siehe »Potse«, »Syndikat«, siehe viele andere Orte, die Berlin früher noch mehr ausgemacht haben.
Schrader: Auf jeden Fall, das muss man größer betrachten. Jeder, der behauptet, er hätte eine einfache Lösung für die »Rigaer 94«, lügt sich selbst in die Tasche. Es ist falsch und gefährlich, mit einem Anwalt, der von einer Briefkastenfirma beauftragt wurde, zu verhandeln. Die haben noch nicht mal einen legitimen Geschäftsführer vorweisen können.
Zimmermann: Steht aber im Grundbuch.
Schrader: Wenn ich verhandeln möchte, dann will ich wissen, wem ich das Geld in den Rachen werfe. Sobald das alles geklärt ist, kann man natürlich miteinander sprechen. Dann muss der Staat Möglichkeiten ausweiten, um Freiräume in der Stadt zu erhalten oder zu erweitern. Dass im konkreten Fall Strafverfolgung stattfinden muss, ist völlig selbstverständlich. Etwas anderes behauptet niemand.
Lux: Ich habe schon ein Problem damit, dass sich unter dem Mantel von Freiräumen Gewalt entwickelt. Diese Leute erweisen der linken Stadtpolitik einen Bärendienst.
Und was ist mit den Bauarbeitern, die ohne rechtliche Grundlage in die Wohnungen eindringen und auf Social Media rechte Inhalte verbreiten?
Lux: Ja klar, ist eine Eskalationsspirale.
Schrader: Das ist hochgefährlich! Wir müssen alles dafür tun, dass die Situation nicht hochkocht. Es wird immer diese Floskel bemüht von dem rechtsfreien Raum, den es nicht geben darf in der Rigaer Straße. Das gilt auch für den Staat. Vor allem in der letzten Regierungsphase des CDU-Innensenators Henkel wurde sehr viel Porzellan zerschlagen mit einer flächendeckenden Anwesenheit der Polizei und intensiven Kontrollen der Bewohner in diesem Kiez. Das wurde als Besatzungszustand empfunden!
Lux: Die Polizei selbst nimmt außerdem die Gefahr von Linksextremismus viel mehr wahr als wir. Wenn man den Umfragen folgt, hat die Bevölkerung viel Angst vor dem aufsteigenden Rechtsextremismus. Die Polizei aber kriegt tagtäglich Farbbeutel, Steine, Molotowcocktails in der Rigaer Straße ab. Linken muss klar werden, dass Polizisten ihre Rückschlüsse ziehen, wenn man sie so behandelt.
Um zuletzt über den Berliner Tellerrand hinauszublicken: Rot-Rot-Grün wird ja immer wieder auch mal als Modell für den Bund gehandelt - mit reellen Chancen?
Zimmermann: Für die Berliner Landesebene können wir sagen, dass R2G im Innenbereich erfolgreich ist. Das kann als Modell gelten. Für die Bundesebene sind noch ein paar andere Fragen zu beantworten. Stichworte: Außenbeziehungen, Militär, Uno-Mandate.
Lux: Die strukturelle Mehrheitsfähigkeit ist das Problem. Inhaltlich würde ich sofort Rot-Rot-Grün anstreben - beziehungsweise wird es dann eher Grün-Rot-Rot (lacht). Strukturell und gesellschaftlich ist das aber leider noch unrealistisch.
Schrader: Ein wirklicher Politikwechsel, den viele wollen, geht nur mit R2G. Deswegen ist es wichtig, dass wir dieses Projekt in Berlin zum Erfolg bringen.
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