Ausbeutung wird abgestraft

Pflegekraft bekommt nach Gerichtsurteil Lohnnachzahlung zugesprochen

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 3 Min.

»Das Urteil hat grundsätzliche Bedeutung«, erklärt Andrea Baer, Sprecherin des Landesarbeitsgerichts (LAG) Berlin-Brandenburg am Montagvormittag. Soeben war von der Vorsitzenden Richterin verkündet worden, dass eine bulgarische Pflegekraft über 38 000 Euro brutto Lohnnachzahlung mit Abzügen von ihrer ehemaligen Arbeitgeberin erhalten muss. Frau D. hatte geklagt, weil sie, obwohl sie zwei Jahre lang rund um die Uhr eine 96-Jährige deutsche Seniorin betreut hatte, nur für 30 Wochenstunden bezahlt wurde (»nd« berichtete). Der Arbeitsvertrag, in dem die Arbeitszeit geregelt wurde, war ihr zuvor nicht erläutert worden. Erhalten hatte sie für ihre Tätigkeit pro Monat 950 Euro netto.

»Die Klägerin hat erklärt, dass sie durchgehend von 6 Uhr morgens bis abends 22 oder 23 Uhr für alle Belange der älteren Dame zur Verfügung gestanden habe«, erläutert die Richterin. Auch nachts habe sie sich in Bereitschaft halten müssen. Damit arbeitete sie wöchentlich 168 Stunden statt der vertraglich festgelegten 30. Und nicht nur das: »Diese vertraglichen Konstrukte ermöglichen es, dass das gesamte Risiko der Betreuung und die Pflege-Organisation auf die Pflegekraft abgewälzt wird«, sagt Andrea Baer. Die Firma, die Frau D. angestellt hatte, sitzt in Bulgarien. Sie vermittelt die Arbeitskräfte direkt an Personen vor Ort, wie in diesem Fall an die Angehörigen der Pflegebedürftigen.

Die erfahrene Ausbeutung wollte die Klägerin, die mittlerweile im Ruhestand in Bulgarien lebt, nicht hinnehmen. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleg*innen, die von diesem in der Pflege gängigen Prinzip betroffen sind, klagte sie vor dem Arbeitsgericht und forderte eine Nachzahlung von insgesamt 90 000 Euro Lohnkosten für die geleisteten Überstunden in den Jahren 2015 und 2016. Im August 2019 sprach ihr das Arbeitsgericht für das Jahr 2015 40 000 Euro zu. Die unterlegene Arbeitgeberin legte dagegen Berufung ein. Was zu vermuten war: Würde der Fall Schule machen, sähe sich nicht nur dieser Pflegebetrieb möglicherweise einer riesigen Klagewelle ausgesetzt.

Im Juli dieses Jahres hatte die Vorsitzende Richterin dann einen Vorschlag zur gütlichen Einigung unterbreitet: Die Arbeitgeberin solle ihrer ehemaligen Beschäftigten binnen eines Monats 10 000 der mehr als 40 000 Euro zahlen. Das schien zwar unangemessen wenig - wurde aber vom Unternehmen trotzdem abgelehnt. Nun entschied das Gericht, dass Frau D. für insgesamt sieben Monate im Jahr 2015 für 21 Stunden am Tag der Mindestlohn bezahlt werden muss. Drei Stunden am Tag, so hieß es weiter, hätte sich Frau D. trotz der vollumfänglichen Betreuungstätigkeiten eigenverantwortlich der Situation »entziehen« können.

Der Anwalt von Frau D. beurteilt den Ausgang des Prozesses am Montag als »vollen Erfolg«. Dieses »Vorreiter-Urteil« müsse nun Nachahmung finden, sagt der Jurist nach der Urteilsverkündung. Für ihn liegt das Problem in der geltenden EU-Rechtsprechung. Das Urteil berührt in der Tat das gesamte System der Häuslichen Pflege in Deutschland, das auf der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte beruht - sich rechtlich aber innerhalb der Richtlinien zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bewegt.

Auch Justyna Oblacewicz vom Projekt »Faire Mobilität« des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB, die den Prozess intensiv begleitet hat, zeigt sich gegenüber »nd« erfreut und überrascht. Ihrer Kenntnis nach ist dies der erste Fall, der es vor Gericht so weit geschafft hat. Die Gewerkschafterin geht allerdings davon aus, dass die Gegenseite Berufung einlegen wird.

»Es geht um sehr viel Geld, die Arbeitgeberin wird sicher in Revision gehen«, meint auch LAG-Sprecherin Baer. Dann landet der Fall beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt - und die Entscheidung hat dann auch bundesweit Tragweite.

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