Eine »fremdenfeindliche« Tat und »nur« zehn Opfer?

Die gesellschaftlichen Folgen der rassistischen Morde von Hanau reichen weit über das Attentat hinaus

  • Christian Gerlin
  • Lesedauer: 5 Min.

Oft wird das schreckliche Blutbad in Hanau fälschlicherweise als Anschlag mit »nur« zehn Opfern betitelt. Als Mensch mit Migrationshintergrund, der selbst erfahren hat, wie eine weitaus folgenärmere und mildere, wenn auch trotzdem schreckliche Gewalttat die eigene Identität erschüttert und das eigene Wohlbefinden verletzt, möchte ich mich heute zu Wort melden und meine Erfahrungen auf eine Art und Weise schildern, die aufzeigt, wie schrecklich und terroristisch jede vermeintlich fremdenfeindliche oder rassistische Gewalt ist. Diese Geschichte erzähle ich, um zu verdeutlichen, wieso wir bis heute trauern und wieso die Folgen solcher Taten sich weit über die direkten Opfer erstreckt. Dabei möchte ich an diesem Tag, sechs Monate nach den grausamen und willkürlichen Morden in Hanau, weniger meine eigene Geschichte erzählen, sondern den Fokus auf unsere aus dem Leben gerissene Brüder und Schwestern und deren Hinterbliebene legen.

Zuerst lohnt es sich der Frage nachzugehen, inwiefern dieses Blutbad als fremdenfeindlich zu bezeichnen ist. Nicht ohne Grund fragen sich manche »Kann mir jemand helfen und erklären, um welche Minderheit es sich da genau handelt und was sie zu Fremden macht?« Welcher Minderheit gehört Gökhan G. als in Hanau geborener Maurer an, wenn seine Familie bereits seit den 60er Jahren in Deutschland lebt? Welcher Minderheit gehört Fatih S. an, dessen größte eigene Migrationserfahrung der Umzug von Regensburg nach Hanau war? Die Antwort ist bei beiden (und fast allen anderen Opfern dieser rechtsradikalen Tat) die gleiche und doch in den Augen des Täters eine andere. Bis auf zwei Rom*a waren die Opfer des rechten Terroristen keiner Minderheit zugehörig, und doch war das in seiner Wahrnehmung anders.

Diese Ambivalenz, dass gut integrierte Mitbürger durch fatale rechte Ideologie zu vermeintlich kriminellen und gewalttätigen Ausländern werden, wird deutlich, wenn man sich den ideologischen Hintergrund des Täters betrachtet. Ich halte diese Analyse des Täters, auch wenn der Fokus auf den Opfern liegen sollte, aus zwei Gründen für sinnvoll: Einerseits wird so die berüchtigte »Einzeltäter-These« – also die Vorstellung, dass Gewalttaten wie diese unabhängig voneinander zu betrachten sind – widerlegt, außerdem wird dadurch deutlich, welche externen Faktoren zu einer Radikalisierung beitragen.

Keinesfalls darf die Tat psychiatrisiert werden. Dies würde die Tat entpolitisieren und die Schuld nur auf den kranken geistigen Zustand des Täters schieben. Dass diese auch von der AfD herangezogene Betrachtungsweise an der Realität scheitert, macht auch das Bekennerschreiben deutlich. Zwar beansprucht der Täter in seinem wirren selbstverfassten Legitimationswerk – welches nur so von rechter Ideologie strotzt – stolz dieses eigenständig und unabhängig verfasst zu haben, doch orientiert er sich stark an anderen rechten Autoren. So wird von einer ethnischen Säuberung geschwafelt, eine keinesfalls neue Vernichtungsfantasie, sondern nur die konsequente Weiterführung der 2019 von Björn Höcke postulierten »wohltemperierte[n] Grausamkeit«.

Ähnlich ersichtlich ist die ideologische Nähe zu Thilo Sarrazins Werk »Deutschland schafft sich ab«, die durch Aussagen wie »nicht jeder, der heute einen deutschen Pass besitzt, [ist] reinrassig und wertvoll« deutlich wird. Kommentare wie diese zeigen auch, wie schnell ideologische Stränge von völkisch-nationalem Denken zu dem neu-rechten sogenannten »Ethnopluralismus«, wie nicht nur die identitäre Bewegung ihn vertritt, gezogen werden können. Diese Bezüge auf rassistische Ideologien zeigen auf, dass der Täter, wenn auch unbewusst, zunehmend von rechten Akteuren in und außerhalb von Parlamenten radikalisiert wurde.

Genauso wichtig ist es, die Folgen der ideologischen Morde in Hanau zu betrachten. Dazu muss ich zunächst selbst etwas von mir erzählen. Meine Eltern, und auch ich, haben einen russisch-deutschen Migrationshintergrund, was zur Folge hat, dass wir – ähnlich wie bei vielen Gastarbeitern – sowohl in Deutschland als nicht »richtig deutsch«, noch im »alten Land« als richtig zugehörig wahrgenommen werden. Unsere ethnische Identität ist ein Grauton. Lang war mir dieser verkörperte ethnische Gegensatz egal. Ich bin in Deutschland geboren und selbst meine Eltern konnten sich hier schnell ein gutes Leben aufbauen, der Diskriminierungserfahrung durch die Bezeichnung als »deutsche Faschisten« in der UdSSR zum Trotz. Dieses als selbstverständlich wahrgenommene Zugehörigkeitsgefühl brach, als meine Oma durch ihre eigene Nachbarin als »Scheißrussin« bezeichnet wurde und mit 80 Jahren einen Schlag ins Gesicht bekam.

Gewalt gegen das als »fremd« Wahrgenommene verursacht immer genau das, nämlich das Gefühl in seiner Heimat – die nähere Umgebung, in der das eigene Aufwachsen stattfand und das eigene Leben stattfindet ist durchaus legitim als Heimat zu bezeichnen, mehr aber nicht – irgendwie doch nicht dazuzugehören. Wie ist eine Gewalttat gegen einen Menschen, dessen Herkunft ähnlich zu beschreiben ist wie die eigene, anders zu bewerten? Was als normal wahrgenommen wurde, ist es plötzlich doch nicht. Für mich war das ein prägendes Erlebnis, das dazu führte, dass mein Selbstbild sich vom losen »Ich habe russische Wurzeln und lebe gerne hier« zu »Ich bin ein Deutscher, hinter dem ein Hintergrund von Migration steht« gewandelt hat. Für die weiteren 20 Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund ist die Situation in Folge solcher Gewalttaten ähnlich. Gerade bei grausamen Blutbädern wie in Hanau ist die Verunsicherung der eigenen Zugehörigkeit besonders einschneidend, fast eine Zäsur.

Fazitär war der Anschlag in Hanau ein politischer Terrorakt, der Folge einer Radikalisierung durch zunehmend gesellschaftsfähigere Akteur*innen ist. Der Täter handelte nicht als psychisch Kranker, sondern höchst ideologisch. Diese beiden Aspekte lassen sich durch das Bekennerschreiben untermauern. Die direkten Opfer der Tat waren nur in der Wahrnehmung des Täters »Fremde« und faktisch gut integrierte Mitbürger, die ihr Leben aktiv in Deutschland führen. Die Opfer der Tat waren nicht nur die zehn ermordeten Hanauer, sondern alle 20 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund, da solche Taten das Zugehörigkeitsgefühl dieser Menschengruppe zum Bröckeln bringen.

Infolgedessen trauern wir nicht nur aufgrund unserer zehn ermordeten Mitbürger, sondern betrauern auch die gesellschaftlichen Folgen solcher terroristischen Taten.

Christian Gerlin ist 18 Jahre alt und lebt in der Nähe von Bremen.

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