- Kultur
- In das Schweigen hineinschreien
So hat das keiner hinbekommen
Die Rede legt sich über die Bilder: Bettina Böhlers Dokfilm über Christoph Schlingensief
Der erste, bleibende Eindruck, der sich einem beim Sehen von »In das Schweigen hineinschreien« aufdrängt, ist, dass Christoph Schlingensief reden konnte wie kaum einer sonst. Ununterbrochen, sobald eine Kamera in Reichweite war, konnte der Regisseur und Theatermacher einen fröhlich-sprunghaften, den Zuhörer belebenden Redefluss laufen lassen, der gelöst zwischen strahlender Intelligenz, großem Witz und unausgegorenen Assoziationen oszilliert. Den man aber auch gerne hörte, weil es nicht bedeutsam daherkam, sondern als irgendwie wohl notwendiger Teil einer Suchbewegung. An deren Ende dann wieder eine Erkenntnis, eine Pointe, ein Bild aufblitzte - ein Moment, den so keiner sonst hinbekommen hätte.
Das Sprechen des jungenhaft lächelnden Künstlers verdeckte die Film- und Theaterbilder mitunter. Wobei es sich in diesem Fall ja eh vermischen und eins werden sollte: Leben und Kunst. Bettina Böhler, die Schlingensiefs Spielfilme »Die 120 Tage von Bottrop« und »Terror Total« geschnitten hat, hat dann auch beides zusammengedacht und für ihren Dokumentarfilm über Christoph Schlingensief »In das Schweigen hineinschreien« offenbar das gesamte Archiv durchforstet. Aus den zahllosen Interviews, Dokumentationen von Proben, Filmdrehs und Aktionen hat Böhler eine chronologisch strukturierte Werkschau zusammengesetzt, eine hochtourige Einführung ins Werk, von den ersten Filmen, gedreht mit acht Jahren, über die »Deutschland-Trilogie«, die Volksbühne, die Aktionen in Wien, Hamburg, New York und vor dem Haus Jürgen Möllemanns, bis zu Bayreuth, zum Festspielhaus in Afrika und zu den letzten Opern.
»In das Schweigen hineinschreien« ist keine Sekunde langweilig, es kracht und lärmt über weite Strecken. Und bleibt, das ist dann allerdings das Einzige, was an diesem Film etwas betrüblich ist, eng mit der Selbstbeschreibung Schlingensiefs verbunden. Der Regisseur spricht über sich und seine Bilder, dann Aktion, dann Filmausschnitt, dann ein Familienvideo - Schlingensief hat auch zu Hause viel gefilmt, alles immer im schnellen Wechsel. Filme wie »Das deutsche Kettensägenmassaker« oder »Menu Total« werden in jeweils etwa vier Minuten abgehandelt, die »Church of Fear«-Aktion in zwei Minuten; aufschlussreich gescheiterte Unternehmen wie »United Trash« oder die Talkshow »die piloten« fehlen ganz.
Damit ist »In das Schweigen hineinschreien« vielleicht doch allzu nah am Künstler und an der Hommage. Irgendwann wünscht man sich jemanden, der aus einer Außenperspektive etwas über die Widersprüche und Grenzen erzählt, die sich zeigen, wenn sich jemand derart weit aus der Deckung herausbegibt, wie Schlingensief das bis zum Schluss getan hat. Auch der Bruch in der öffentlichen Wahrnehmung Schlingensiefs, der mit dem Bekanntwerden seiner Krebserkrankung einsetzte, wird nicht problematisiert: vom ewigen Provokateur (was mit Sicherheit die dümmste Herangehensweise an das Werk ist) zum allseits bewunderten und geliebten Schmerzensmann (was nicht zuletzt auch sehr gruselig war).
Das ausgeprägte Gespür für Bilder, das Schlingensief hatte, kann man hier in den Ausschnitten gerade seiner letzten Arbeiten erkennen. Hinter dem Monolog, der den Schlingensief, den Bettina Böhler zeigt, vor allem zu einem Sprachkünstler werden lässt, verschwinden seine Bilder immer wieder. »In das Schweigen hineinschreien« macht großen Spaß - und spürbar, was mit dem Tod Schlingensiefs vor zehn Jahren verschwunden ist. Am Ende spricht er über die »verflixte Angewohnheit, alles als Film zu betrachten«: »Das hab ich seit dem achten Lebensjahr gemacht. Ich kann die Welt eben nur in Geschichten oder auch in der Manipulation ertragen.« Es fehlt seit seinem Tod, neben vielem anderen, ein Blick auf Deutschland, der in der Übertreibung und komischen Überhöhung dem, was passiert und geschehen ist, näher kommt als etwas Wohltemperiertes. Es fehlt eine Kunst, die die eigene Angst wirklich zum Thema macht.
»In das Schweigen hineinschreien«, Deutschland 2020. Regie: Bettina Böhler. 124 min.
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