Gute Geschichte
Glaubwürdigkeit wird überbewertet - und der spanische Film »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden« macht leider kein Geheimnis daraus
In einem nicht weiter erheblichen, dem Kitsch nicht allzu feindlichen Gegenwartsroman findet sich die Einschätzung, »dass wir nur in den Geschichten anderer existieren«; und wenn das Glück es will, hat man gleich darauf W. G. Sebalds »Die Ausgewanderten« in der Hand, »vier lange Erzählungen«, in denen vier Biografien aus Realität und Erfindung zusammenschießen und der Erzähler noch ein Kind war, als er sich den »in ihren Einbildungen befangenen Erwachsenen« überlegen fühlte. Ein Gewährsmann kümmert sich später »grundsätzlich nicht mehr um das, was vor sich geht in der sogenannten wirklichen Welt. Zweifellos bin ich jetzt in einem gewissen Sinne verrückt, aber wie Sie vielleicht wissen, sind diese Dinge einzig eine Frage der Perspektive.«
Wissen wir, schon Cervantes hat daraus seinen »Don Quijote« gemacht. »Glaubwürdigkeit wird überbewertet«, lautet trotzdem der Leitsatz des spanischen Kinofilms »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden«, den die Reklame in die »beste Tradition surrealistischen Filmemachens« stellt und als »schräge, visuelle und bisweilen zutiefst beunruhigende Komödie« annonciert, in der »die Kunst des Erzählens selbst zur Hauptfigur wird, als würden Luis Buñuel und Salvador Dalí noch einmal zusammenarbeiten«. Was eine »visuelle« Filmkomödie ist, weiß der Verleih allein, das Epitheton »schräg« bedeutet selten Gutes, und dass es uns noch beunruhigen müsste, wenn Erzählinstanzen oder Wahrheiten sich als unzuverlässig erweisen, darf, siehe oben, ausgeschlossen werden.
Was also bleibt vom Spielfilmdebüt des Regisseurs Aritz Moreno, das eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte erzählt und dessen Erzähler, wenn wir das spoilern dürfen, verrückt genug ist, dass sich am Ende Erzählung als Erzählung erweist? In, wir sitzen im Kino, einer Erzählung?
Man sehe sich ruhig Buñuel noch mal an, seine »Belle de Jour«, wo Traum und Realität so durcheinandergehen, dass es sich am Schluss kaum auflösen lässt: Das ist nicht als Beweis für etwas gedacht, was vermutlich schon 1967 nicht mehr aufregend war, sondern dient der Beschreibung von Trieb, Zwang, Verdrängung im bourgeoisen Gefängnis.
Um Obsessionen geht es Moreno zwar auch, doch stehen sie allenfalls dafür, dass auch die Obsession nichts weiter ist als eine Erzählung, die man selbst für wahr hält und die man sich, kommt es darauf an, sogar zwingen kann, für wahr zu halten. Dass Verschwörungstheoretisches ein Motiv des Films bildet, muss wiederum nicht überraschen, und ein öder Ansatz wäre, das alles für basale (oder eben banale) Ideologiekritik, nämlich Aufklärung über Fake News und inszenierte Realität zu halten, falls Kino, noch mal siehe oben, nicht sowieso inszenierte Realität ist.
»Natürlich hätte das erfunden sein können, aber so zu denken, bringt einen nicht weiter«, sagt der Erzähler gelegentlich; und ein zweiter Erzähler in der Ebene darunter, der, weil körperbehindert, »nur fiktive Dinge« und die Liebe bloß aus Pornos kennt, kommt sich, als die Liebe dann vor ihm steht, »so nackt vor wie eine postmoderne Nacktschnecke«. Rechtzeitig zum Ebenenwechsel ist das Wort »Matrjoschka« gefallen, und dass man im Unklaren gelassen würde, worum es geht, wird man also nicht sagen können. Den Clou, falls das Wort denn angemessen ist, spricht die Hauptfigur Helga natürlich ebenfalls aus, die sich, falls es stimmt, für ihren obsessiven Geliebten zum Hund hat machen lassen: Es ist egal, ob eine Geschichte wahr ist; Hauptsache, sie ist gut. Helga ist Verlegerin.
Sofern man sich an dekonstruktivistischem Altkleiderhandel nicht stört, sind »Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden«, die übrigens auf einem Roman (von Antonio Orejudo) basieren, keine rundheraus schlechten, denn Illusionstheater ist ja jedenfalls Theater, und was mit »visuell« gemeint ist, weiß man am Ende auch. Der haushoch-bunte Abfallberg etwa ist wirklich gut, und dass er als Motiv nicht unheikel ist, ist vielleicht sogar der Witz.
»Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden«, Spanien 2019. Regie: Aritz Moreno; mit Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio. 103 min.
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