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»Neugierig und wissensdurstig«

Walter Ulbricht in den Augen seines Urenkels Florian Heyden - ein lesenswertes Geschichtsbuch

  • Egon Krenz
  • Lesedauer: 5 Min.

Als vor sieben Jahren der Band »Walter Ulbricht - Zeitzeugen erinnern sich« erschien, dachte ich, nunmehr sei über den Ausnahmepolitiker alles Wichtige gesagt. Irrtum. Sein Urenkel Florian Heyden, von dessen Existenz ich damals keine Ahnung hatte, korrigiert mich mit seinem nun erschienenen Buch über seinen berühmten Urgroßvater. Just im gleichen Jahr, als die Erinnerungen von 70 Weggefährten Ulbrichts erschienen sind, hat er sich auf den Weg gemacht, die eigene Familiengeschichte zu erforschen.

Jahrelang recherchierte er in deutschen, russischen, amerikanischen und britischen Archiven. Entstanden ist ein lebendig geschriebenes, eindrucksvolles Geschichtsbuch, ein Lesebuch, das viel Neues über den Jahrhundertpolitiker und Familienmenschen Walter Ulbricht enthält, darunter auch bislang unbekannte Fotos aus dem Familienalbum. Was Zeithistoriker bisher versäumten, eine differenzierte Sicht auf Ulbricht zu fördern, holt ein Nicht-Historiker nach, ohne den Anspruch, ein wissenschaftliches Werk vorzulegen.

Der Verfasser offenbart deutlich seine Zuneigung zum Urgroßvater, obwohl er ihn persönlich nie kennenlernte. Wer Lotte und Walter Ulbricht zu DDR-Zeiten erlebte, wird kaum vermutet haben, dass in dessen Leben drei Ehefrauen eine Rolle spielten. Vom Urenkel erfahren wir darüber Interessantes, ohne dass er den politischen Kontext verlässt. Gut recherchierte geschichtliche Tatsachen, ausgelotet auch aus familiärer Sicht, und flott geschrieben, machen dieses Buch lesenswert. Für Geschichtsklitterer wird Ulbricht dennoch »Stalins Marionette« bleiben, der »sächsische Spitzbart«, der »rote Diktator«, der »Mauerbauer«, der »Dogmatiker«, kurzum: eine Unperson »mit Fistelstimme«. Das gehört zu ihrer antikommunistischen Grundhaltung, die sie wohl nie aufgeben werden. Objektive Tatsachen, die Ulbrichts Rolle in der Geschichte des 20. Jahrhunderts differenziert dokumentierten, werden absichtsvoll ignoriert.

Wer aber wissen will, warum seinerzeit der aus dem Bürgertum stammende Journalist, Publizist und Schriftsteller Sebastian Haffner Ulbricht als den »erfolgreichsten deutschen Politiker nach Bismarck und neben Adenauer« bezeichnete, der findet im vorliegenden Buch eine Menge Gründe. Er kann nachvollziehen, wie sich Ulbricht vom Tischlerlehrling zu einem mutigen Kämpfer gegen Krieg und Faschismus entwickelte und schließlich zu einem anerkannten strategischen Denker und international geachteten Funktionär der Arbeiterbewegung wurde. Beeindruckend der Drang des Heranwachsenden nach Bildung und Kultur. Auf seiner Wanderschaft als Tischlergeselle durch halb Europa ließ er kein Museum aus, las Kautsky, Marx, aber auch Goethe, »ist neugierig und wissensdurstig«.

Es mag verwundern, dass das Buch im Jahre 1945 endet und die Zeit bis zum Tod Ulbrichts am 1. August 1973 ausgespart bleibt. Ob man daraus schließen kann, dass noch ein zweiter Band folgt? Ungeachtet dessen aber gibt das Beschränken auf die Zeit vor der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus durch die Alliierten, dabei maßgeblich durch die Sowjetarmee, die Möglichkeit, die Verhältnisse in der Weimarer Republik und die Ursachen für den Aufstieg des Faschismus fakten- und umfangreich zu beleuchten, was für die Gegenwart nicht unwichtig ist. »Walter zittert nicht vor Thronen, er zieht in die Höhle des Löwen«, notiert Heyden über die legendäre Redeschlacht seines Urgroßvaters mit Goebbels am 22. Januar 1931 im Saalbau Berlin-Friedrichshain. Wie für die Gegenwart hinterlassen: Mit aller Kraft gegen die Nazis und zugleich für die Zurückgewinnung ihrer Mitläufer und Wähler.

Ob es die Intention des Autors war, kann ich nicht beurteilen. Ich erkenne jedenfalls in dem Buch sehr deutlich zwei Linien deutscher Politik des 20. Jahrhunderts. Während der KPD-Reichstagsabgeordnete Ulbricht von den Nazis verfolgt und in die Illegalität gezwungen worden war, stimmte der spätere Bundespräsident Theodor Heuss als Abgeordneter der Deutschen Staatspartei 1933 im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zu. Als Ulbricht in den Schützengräben der Verteidiger Stalingrads lag und deutsche Soldaten aufrief, ihr Leben zu retten, befanden sich die späteren BRD-Politiker von Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt als Offiziere der faschistischen Wehrmacht unter den Belagerern Leningrads.

Ungeachtet geschichtlicher Belege wird heutzutage der kommunistische Widerstand gegen den Faschismus weitgehend verschwiegen oder entstellt, hingegen die DDR, zu deren Wurzeln entschlossenes und konsequentes Handeln gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus gehörte, diffamiert und kriminalisiert.

Der Urenkel verschweigt nicht die Stalinschen Repressionen, von denen auch Ulbricht und Genossen betroffen waren. Das war für den überzeugten Anhänger der Oktoberrevolution jedoch kein Grund, auf Distanz zur Sowjetunion zu gehen. Er war ein zuverlässiger Verbündeter Moskaus, aber kein Speichellecker, kein willenloser Vollstrecker von Direktiven.

Im Buch des Urenkels werden Eigenschaften Ulbrichts sichtbar, die in der aktuellen Politik selten geworden sind: Gradlinigkeit, lebenslanges Lernen und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Die geschilderten Begebenheiten beweisen: Wenn er nicht einverstanden war, widersprach er - auch zu Stalins Zeiten. Wenn er überstimmt wurde, ordnete er sich der Mehrheitsentscheidung unter. Immer war ihm einheitliches, geschlossenes Handeln im Interesse der Menschen wichtiger als Rechthaberei. Seine Irrtümer und Fehleinschätzungen sind dadurch zwar nicht entschuldbar, aber aus dem geschichtlichen Zusammenhang heraus erklärbar.

Als sich 2013 Weggefährten Ulbrichts mit ihren Erinnerungen zu Wort meldeten, nannte eine Autorin in der FAZ diese abfällig und respektlos »ein Gruselkabinett der Ewiggestrigen«. Inzwischen sind 39 der derart diffamierten Autoren und Autorinnen verstorben. Die Zahl der kompetenten Zeitzeugen, die aus eigenem Erleben berichten können, nimmt rapide ab.

Ulbrichts Urenkel demonstriert mit seinem Buch einen verantwortungsvollen und vorurteilsfreien Umgang mit der jüngsten Geschichte. Seine und die nachfolgenden Generationen sind frei vom Ballast des Kalten Krieges, können, wenn sie denn wollen, ohne Vorurteil und systembedingte Vorgaben urteilen.

Bleibt zu hoffen, dass es zur Normalität wird, dass Zeithistoriker erst analysieren, bevor sie verurteilen.

Florian Heyden: Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater. Edition Ost, 352 S., geb., 24 €.

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